: Eine vom Volke angeblich verstandene Kunst
■ Naum Gabo und der Wettbewerb zum Palast der Sowjets, Moskau 1931 bis 1933: Eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie und ein das Thema ergänzendes Buch
Innerhalb der gegenwärtigen öffentlichen Architekturdiskussion tauchen die zwanziger Jahre meist als geschlossenes Bild auf: die gängige Konnotation ist die der sog. „Bauhaus-Mode“ und der „Neuen Sachlichkeit“ – man denkt an Walter Gropius und Le Corbusier, in Berlin an Bruno Taut und Erich Mendelsohn. Der heftige Richtungsstreit dieser Zeit um eine zeitgemäße Architektur, also der Kampf zwischen traditionellem und modernem Bauen, wird meist ausgeblendet. Zu sehr haben sich die Bilder der weißen Kuben eingeprägt, der schlichten Baukörper ohne Schmuckelemente und das flache Dach.
Die breite Palette Baustile, die in den Jahren zwischen 1920 und 1930 zur Anwendung kamen, tritt meist nur bei Durchsicht der zahlreichen Wettbewerbe zutage, also dann, wenn die Vertreter aller Stilrichtungen an einer Bauaufgabe sich zugleich versuchten. Dabei haben sich die sogenannten „modernen Architekten“, um ihr Anliegen propagandistisch zu verbreiten, in verschiedenen Interessengruppen zusammengeschlossen: in Berlin 1919 zum „Arbeitsrat für Kunst“ und 1923/24 zum sogenannten „Ring“, in Europa ab 1928 zu den „Congrès Internationaux d'Architecture Moderne“ (CIAM), deren Aktivitäten schließlich in der berühmten „Charta von Athen“ („Die funktionelle Stadt“) des Jahres 1933 gipfelten. Die als „Traditionalisten“ bezeichneten Architekten hatten Zusammenschlüsse dieser Art nicht nötig: Wenn man das gesamte Baugeschehen in allen Ländern jener Zeit überblickt, haben sie letztlich mehr gebaut als die sogenannten „Modernen“.
Die Wettbewerbe
Drei internationale Architektur- Wettbewerbe dieser Jahre sind paradigmatisch für die Demonstration der abenteuerlichen Vielfalt von Stilrichtungen: Der erste war der für die Chicago Tribune im Jahre 1922, der unter anderem Adolf Loos eine gigantische dorische Säule als Gebäude entwerfen ließ, also eine frech-ironische Antwort auf die historisierenden Stile. Der zweite war der für den „Völkerbundpalast“ in Genf 1926/27: auch hier wieder eine Stilschlacht von griechisch-römisch über Freistil bis hin zum Jugendstilkitsch und sachlich-modernen Interpretationen: Le Corbusier und Hannes Meyer/Hans Wittwer ragten hier heraus. Der letzte große internationale Wettbewerb war der zum „Palast der Sowjets“ in Moskau, der sich in mehreren Stufen von 1931 bis 1933/34 hinzog und dessen Ergebnis in einem wüsten polemischen Streit zwischen den Riegen der Altertümler und der Modernen endete. In allen drei Wettbewerben zogen die modernen Architekten, jene, die sich einer funktionalistischen Architektur verschrieben und mit ihrem Beruf meist das Anliegen einer neu geordneten sozialen (sozialistischen) Gesellschaft verbanden, den kürzeren: Die ersten Preise gingen immer an eine traditionelle Architektur-Auffassung, an Entwürfe, die sich überkommener Kompositionsprinzipien bedienten.
Damit ist aber auch schon ein Generalkonflikt angedeutet, der sich – den Stil betreffend – bis heute in der Debatte hält: Spricht man von „moderner“ Architektur, meint man die zwanziger Jahre; und spricht man von traditioneller, dann von faschistischer oder stalinistischer Architektur, will man den Ausdruck der Bauten benennen, die in den dreißiger und vierziger Jahren in Deutschland und in der UdSSR (hier bis in die fünfziger Jahre) errichtet wurden. Diese Ungenauigkeit der Bezeichnung eben nicht nur ästhetischer Phänomene findet sich bis heute in den Feuilletons aller Zeitungen und selbst im Wortschatz der Architekten.
In allen Ländern – zumindest in den europäischen und amerikanischen – gab es also miteinander streitende Richtungen, Unterströmungen und Stilprägungen, die sich mal auf die nationale Tradition, mal auf den Fortschritt oder auf beides zugleich beriefen. Daß sich dort, wo entschieden wurde und wird, in den politischen wie kulturpolitischen Kasten, zumal in unserer bürgerlichen Gesellschaft, eher restaurative Kreise treffen – wer wollte das bestreiten. Und dementsprechend sah der oben benannte Kampf der Richtungen eben auch nach den Wettbewerben – besser: nach deren Entscheidungen aus.
Beim Wettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf hatte dies 1928 die Gründung der eingangs erwähnten CIAM-Kongresse zur Folge: Man wollte sich organisieren und vermochte es sehr wohl, der modernen Architektur in den nächsten Jahren eine gewisse Geltung zu verschaffen – eben durch die Organisation der „Kongresse für Neues Bauen“, wie sie in Deutschland hießen und die jedes Jahr in einem anderen Ort mit einem je anderen Themenschwerpunkt stattfinden sollten.
Europäisches Phänomen
Genau in dem Moment aber, als der 4. CIAM-Kongreß in Moskau stattfinden sollte, im Jahre 1932, verschoben dann auf das Jahr 1933, zuletzt verlegt nach Athen – in diesem Moment machte die Kunst- und Architektur-Debatte in der UdSSR, zuvor eine Hochburg sogenannter „konstruktivistischer Architektur“, einen Schwenk: Man diskutierte den „Sozialistischen Realismus“, eine vom Volke angeblich verstandene Kunst, und wendete sich in der Architektur – wie in anderen Ländern auch – einem Klassizismus mit folkloristischen Elementen zu. Der Kampf der „Modernen“ schien verloren. (In Italien versuchten gerade diese sogenannten „Modernen“ sich dem Faschismus als „die wahre faschistische Architekturrichtung“ anzudienen).
1931 fand die erste Stufe des Wettbewerbs für den „Palast der Sowjets“ in Moskau statt: Die internationale Beteiligung war enorm, man zählte insgesamt 272 Teilnehmer aus über 20 Ländern. Dazu nahm eine Reihe von diversen (russischen) Gruppen und Initiativen am Wettbewerb teil: Laien, Menschen aus dem Volk, denen man Gelegenheit bot, ihren Staatswillen als Stilwillen zu äußern.
Die gegenwärtig in der Berlinischen Galerie ausgestellten Entwürfe zu diesem gigantischen Welt-Zentrum des Kommunismus verdeutlichen das breite Spektrum von Haltungen und Stilen. Aus den 4.000 im Moskauer „Stschussew- Museum“ aufbewahrten Zeichnungen und Modellen hat man diese Auswahl getroffen: und es ist gut daran getan worden, aus allen, man möchte sagen: Stil-Epochen die typischsten Arbeiten auszuwählen.
Wirklich, einige der Entwürfe scheinen aus einer anderen Zeit zu stammen: Renaissance, Barock, Klassizismus und abenteuerlichster Historismus sind vertreten.
Experiment Naum Gabo
Gruppiert ist diese Ausstellung um den Entwurf des russischen Konstruktivisten Naum Gabo, der von Berlin aus an diesem Wettbewerb teilnahm. Nachdem die Berlinische Galerie im Jahre 1988 ein einzigartiges Konvolut von Zeichnungen, Modellen und Skulpturen von Naum Gabo aus Privatbesitz erwerben konnte, hatte man wenigstens einen Anhaltspunkt für dessen Wettbewerbsbeitrag, der mittlerweile Legende war, den aber niemand richtig kannte. Im Zusammenhang mit diesen Beständen und den Zeichnungen aus Moskau ist nun erstmals ein vollständiger Einblick in die Arbeit Naum Gabos möglich. Und gerade im Vergleich mit den anderen Teilnehmern an diesem Wettbewerb ist auch dessen Qualität und moderne Entwurfspraxis gut nachzuvollziehen.
Gabos Entwurf verdankt sich seinen sphärischen Skulpturen und einer die klassische Geometrie und Raumauffassung sprengenden Grundhaltung: Sein Palast ist die bauliche Transformation seiner Skulpturen. In Gabos Palast manifestieren sich die gleichen Gedanken, die ihn schon 1922 bis 1925 seine Säulen- und Raumkonstruktionen schaffen ließen: in sich verschränkte oder sich durchdringende prismatische Glas- und Stahlteile, geometrische Körper, die die Statik des Oben und Unten aufzulösen versuchen und zugleich als Ausdruck einer neuen Zeit gesehen sein wollen – eine Zeit, die durch die Wiederentdeckung der nichteuklidischen Geometrie geprägt ist, eine Zeit, die durch die neuen Bewegungsapparate Flugzeug und Auto eine andere Rauminterpretation ermöglicht hat. Die Radikalität, die Naum Gabo seinen Entwurf machen läßt, erreicht kein anderer Architekt des Wettbewerbs.
Prämiert wurde die Arbeit und ein das Thema ergänzendes Buch
Von Martin Kieren
nicht. Das verwundert allerdings auch nicht, wenn man sich den 1933 mit dem ersten Preis ausgezeichneten Entwurf von Boris Michailowitsch Jofan ansieht: eine gigantische gewalttätig-gotische Interpretation eines ideologischen Gedankens, eine sakral wirkende Anlage von 420 Metern Höhe, gekrönt von einer 70 Meter hohen Lenin-Statue. Gebaut wurde auch sie nicht, es fehlte das Geld, dann kam der Krieg.
Zwischen diesen beiden Entwürfen – dem von Naum Gabo und dem Sieger der Konkurrenz – bewegen sich die hier erstmals ausgestellten Zeichnungen: akkurate technische Blätter ebenso wie visionäre Architekturphantasien; großformatige Transparente aus Gedankenlaboratorien und pastellierte oder aquarellierte Papierbögen – allesamt von einem ausgeprägt grafischen Reiz. Man will nicht glauben, daß alle ausgestellten Arbeiten auf das gleiche Raum- und Nutzungsprogramm reagiert haben. Aber genau das ist das Spannende an Architektur- Konkurrenzen.
Die Zeit danach
Mit der verhinderten Errichtung des Palastes beginnt die Zeit in der UdSSR, die im Rückblick jene Bauten hervorgebracht hat, die mit dem Etikett „Stalinistische Architektur“ eher unzureichend versehen werden.
Bis zur von Nikita Chruschtschow verfügten Schließung der Moskauer Architekturakademie im Jahre 1955 reicht diese Epoche; und sie hat deutliche Spuren und sowohl Widerspruch als auch Begeisterung ausgelöst. Unter Architekten hält sich noch heute beides die Waage. Über diese Jahre haben zwei junge sowjetische Kunst- und Architekturhistoriker ein Buch geschrieben, das im Verlag Klinkhardt & Biermann erschienen ist; ein spannendes und ausgezeichnet illustriertes Buch über einen Gegenstand, der auch wehmütig stimmen kann.
Der Versuch der Versöhnung von tradiertem Formenschatz und nationalem Ausdruck, die Amalgamation verschiedenster europäischer (technischer, expressionistischer und Heimat-)Stile – das ist manchmal rührend und komisch, bisweilen aber auch großartig bis gewaltig-gewalttätig. Der transformierte und uminterpretierte Klassizismus in seiner folkloristisch- monumentalen Variante ist dabei das hervorstechende Merkmal: Das Volk also sollte sich diesen Stil der (klassisch-)bürgerlichen Epochen aller Länder und aller abendländischen Kultur aneignen, ihn besetzen und sich damit als herrschend und beherrschend fühlen können. In dieser Hinsicht bedienten sich die Herrschenden und ihre Architekten in vielen Ländern gleicher Mechanismen.
Die Autoren vermeiden es allerdings, bei der Behandlung ihres Gegenstandes böse Feindbilder und platte Schematisierungen zu wiederholen: Sie enthalten sich einer Kommentierung der Begeisterung postmoderner (westlicher) Strömungen der siebziger und achtziger Jahre für diese Architektur (die ihnen Vorbild und gelungener Ausdruck eigener Phantasielosigkeit ist) ebenso, wie sie es vermeiden, in diesem Klassizismus zuerst und ausschließlich das restaurative oder reaktionäre Element aufzudecken.
Ihre Darstellung ist auf angenehme Art fakten-, aufschluß- und auch anekdotenreich und um viele, bislang in Archiven verborgene und verschollen geglaubte Dokumente und Fotografien bereichert. Als vorbereitende Lektüre für einen eventuellen Rußland- oder auch bloß Moskau-Besuch eignet es sich ebenso wie zum Studium des Verhältnisses von Kunst und Macht.
Zugleich legt es an vielen Stellen die Intentionen derer bloß, die sich auch heute wieder restaurativer Strömungen bedienen, um einen verbrämten Klassizismus in der Architektur einzujammern.
–„Naum Gabo und der Wettbewerb zum Palast der Sowjets, Moskau 1931-1933.“ Berlinische Galerie im Martin-Gropius-Bau. Bis 31.Januar, Di-So 10-20 Uhr. Katalog: 235Seiten, 38DM.
–Alexej Tarchanow/Sergej Kawtaradse: „Stalinistische Architektur“. 208 Seiten, 250 Abbildungen, davon 40 in Farbe, sowie 30 Pläne und Zeichnungen (Leinen, Schutzumschlag), Verlag Klinkhardt & Biermann, München 1992, 98DM.
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