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Küsse, Eidechsen, Kaugummi

Geschichten von kaltem Charme: Joy Williams' „Der kleine Winter“  ■ Von Esther Röhr

Scotch, Gin, Gimlet mit Limonen, Martini, Bourbon mit und ohne Eis: In Joy Williams' Erzählungen wird eine Menge getrunken. Kaum ein Gespräch wird ohne volle Gläser in Händen geführt, kaum eine Einsamkeit atmet nicht das scharfe Aroma diverser Spirituosen. Mit „Drinks“ und wendigen Wagen – vom Chevy- Pickup bis zum Ford Thunderbird – ist eine karge Welt ausstaffiert, die längst nicht mehr glauben machen kann, ein weites, zugängliches Eiland unbegrenzter Möglichkeiten zu sein. Daß „alles jenseits des Möglichen“ ist, wissen Joan und Bliss ebenso wie Don, Debbie und Heather. Müde agierend und reagierend, unverstanden und verständnislos: Monaden sind Joy Williams' Figuren, beseelt von dem Wunsch, zu „entkommen“.

Joy Williams, für den Roman „Lebensdiebe“ (1989) und die Stories „Sommer“ (1991) schon bekannt, ist in zwölf neuen Geschichten, was ihrer Vorsicht im Umgang mit fiktiven Schicksalen betrifft, treu geblieben. Beinahe eigenschaftslose Menschen fahren in Autos hin und her, sitzen auf ungepflegtem Rasen oder auf Stahlrohrstühlen, sie liegen auf Bänken im Sonnenstudio, im Bett oder in der Badewanne, manchmal werden sie zu Partys geladen. Ja, Mays Sohn ist hingerichtet worden, weil er einen Hilfssheriff und dessen Hund getötet hat, ja, Mollys Schwester Martha ist an einem Stück Brot erstickt, und Gloria hat einen Gehirntumor. Doch während wir all dies erfahren, erfahren wir wenig mehr als nichts. Kein noch so dramatisches Geschehen zerstört die unbewegten Panoramen, die Joy Williams entwirft. Geranien wachsen in Konservendosen, an einer Wäscheleine schaukelt ein Nachthemd im Wind – ein Blick auf eine Veranda oder in einen Garten genügt, um über innerste Befindlichkeit genauestens im Bild zu sein. Ein knapper, lakonischer Satz wie „Heather war jung und verzweifelt“ vermag deshalb nicht nur zu überzeugen, sondern auch ein Fluidum zu verströmen, das zwischen die Zeilen dringt.

Ein halbes Dutzend Schlangenhäute hängen nebeneinander an der Außenwand eines Hauses. Die Häute sind die Kleider Lu-Lus, sie rascheln und locken wie eine Verheißung. Spitzbübisch bekennt Don Dune – er trägt eine Schirmmütze –, welch ein Hochgenuß es ist, Lu-Lu ihre schmiegsame Hülle abstreifen zu sehen. Doch Don und Debbie Dune sind sehr alt und können Lu-Lu nicht länger versorgen. Heather, eine Nachbarin der Dunes, schaut ihr trocknendes Nachthemd an, ein Nachthemd „voller Sehnsüchte“, „häßlich“ und wie verloren. Lu-Lu schiebt ihren speerförmigen Kopf auf Debbies Knie. Debbie meint, Lu-Lu möge Marmelade. Wird Heather Lu-Lu lieben und mit ihr „eine Wüste finden“, wie sie unvermittelt verspricht? Wird Lu-Lu ihr jenes „Etwas“ sein, das „das ganze Leben verändert“, und zwar sofort? Heather will keine Zeit verlieren. Wie aber bekommt man eine derart große und bedeutsame Schlange auf den Rücksitz eines Wagens?

Joy Williams' Inszenierungen der isolierten Existenz, der Ziellosigkeit und des Sinnverlusts sind weit weniger bizarr, als sie zunächst wirken. Nur selten flackert, wie im Fall Heathers, ein Verlangen auf, das nicht dem radikalsten Selbstschutz gilt: der Teilnahmslosigkeit, dem kalten „Charme“ der „Neutralität“. Denn die Sehnsucht nach dem „Glück“ der „Leere“ ist die einzig angemessene Antwort auf die „untergehende Wirklichkeit“. Wo zum Stoff für Partyplaudereien wird, wer einen künftigen Atomkrieg überleben will und wer nicht, wo der neunjährige Tommy sich fasziniert und mit krausem Stolz zur „letzten Generation“ zählt, zu denjenigen nämlich, die „alles zum letzten Mal sehen“, ist es, recht betrachtet, eigentlich „nicht mehr auszuhalten“, und jeder gutwillige Versuch, die Unaushaltbarkeit selbst zu leugnen, ist nichts anderes als „erbärmlich“. Tommy, dessen Mutter bei einem Autounfall umkam, möchte gern Mönch werden. Mönche gehen in die Wüste und warten dort auf das „Ende der Zeit“, unbehelligt von ihren Daddys, von ihren gräßlich älteren Brüdern, die fremde Mädchen küssen und sich zum Geburtstag Eidechsenlederstiefel wünschen, und von den vielfältigen Kümmernissen, die die Einsamkeit bereitet, wenn sie sich nicht mit der Freiheit verbündet. Die Freiheit aber wohnt im Nichts.

Die Wüste, Reptilien, Fische und – Antipoden des konsequent Stummen – deutsche Schäferhunde repräsentieren die Atmosphäre, die das Personal dieser Erzählungen umgibt. Wenn auch vom Schweigen, vom Tod überhaupt, vom Aussterben der Vogelarten etwa, oft die Rede ist, so ist es doch Joy Williams' Sache nicht, für die Apokalypse zu werben. Nicht der ökologische Countdown, nicht die Opfer des Straßenverkehrs, der Krebszellen und des elektrischen Stuhls sind die Indikatoren des um sich greifenden „Zerfalls“ (das ist auch der Titel einer der Erzählungen). „The ever-approaching nothing“, die Allgegenwart eines essentiellen Ungrunds interessiert Joy Williams mehr als „people“ und „society“. Und es ist die Farbe Weiß, die – diskret und „modern“ – den „Fluch von den Dingen nimmt“, den Fluch, unter Müll begraben zu sein. Der Müll aber ist die Sprache, ein Berg von „Gerümpel“, bei jedem Zungenschlag „weggeworfen, als wäre ein Wort so gut wie das andere“.

Was für die Wegwerfgesellschaft gilt, gilt für Williams zweifellos nicht. Die Worte der Amerikanerin, die beim Schreiben Bubblegum kaut, sind derart sorgfältig gewählt, daß wenige von ihnen ausreichen, um die Kosmen erahnen zu lassen, die im Alphabet verborgen sind. Verborgen in ihren Geschichten ist eine strenge Poetik, die verlangt, der Oberfläche der Sprache kein Vertrauen zu schenken. „Du kannst dir nicht vorstellen, was in den Mündern der Menschen vor sich geht“, sagt Bliss zu seiner Frau Joan. Bliss ist Zahnarzt und muß es wissen. Die Sprache als Ein- und Ausgang zu „einem ganz anderen Ort“? Unter dem Titel „Der kleine Winter“ sind Visionen gesammelt, die vom Umgang mit dieser Frage handeln und von der Verzweiflung, nicht mit ihr umgehen zu können, da niemand in der Lage ist, sie als überlebensnotwendig zu begreifen und zu stellen. Ein Fernsehgerät hat in der Mitte seines Bildschirms ein Einschußloch. Kühl sind die Nächte in der Wüste. Der „kleine Winter“ ist nur ein Bote. Der „große Winter“ steht noch bevor.

Joy Williams: „Der kleine Winter. Stories“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker und Claus Varrelmann. Verlag Antje Kunstmann 1992, 192 Seiten, 34DM.

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