: Zehntausende fliehen aus Bombay
Bei den Kämpfen zwischen Muslimen und Hindus starben 575 Menschen/ Regierende Kongreßpartei von Premierminister Rao wird für die Entwicklung verantwortlich gemacht ■ Aus Bombay Bernard Imhasly
575 Menschen sind bei den Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus in Bombay seit der vergangenen Woche ums Leben gekommen. Die Hüttensiedlungen muslimischer Wanderarbeiter wurden, manchmal unter den Augen der Polizei, von Banden der hindu-chauvinistischen Shiv-Sena-Partei überfallen. Aber auch in den wohlhabenden Quartieren erhielten Bewohner Morddrohungen, wurden Autos verbrannt und Fenster eingeschlagen.
Das Resultat ist eine Fluchtbewegung, die ältere Bewohner an die Zeit der Trennung Indiens und Pakistans erinnert. Während die Bessergestellten ihre Namensschilder entfernen, bei Freunden oder in Hotels Zuflucht suchen, suchen die Ärmeren die Stadt zu verlassen. Der Kolonialbau des Hauptbahnhofs sieht wie ein Flüchtlingslager aus, in dem Obdachlose entweder temporären Schutz suchen oder mit ihren wenigen Habseligkeiten auf die Abfahrt in ihr Dorf zurück warten. In zahlreichen Extrazügen haben bisher 22.000 Menschen die Stadt verlassen. Insgesamt sind nach Zeitungsberichten über 150.000 aus der Metropole geflohen. Zu den Flüchtlingen gehören nicht nur Muslime, sondern auch Hindus, für die die Lebensmittelpreise innerhalb weniger Tage in unbezahlbare Höhe geschnellt sind und die nicht nur der Gewalt, sondern auch dem Hunger entfliehen.
In einem Sonderzug wurde auch eine Gruppe von Flüchtlingen aus Bangladesch nach Kalkutta und von dort über die Grenze zurückgeführt. In dieser weit publizierten Maßnahme läßt sich der politische Versuch der Regierung erkennen, den Ressentiments der Hindus gegenüber diesen „Wirtschaftsflüchtlingen“ Rechnung zu tragen.
Tatsächlich bilden diese illegalen Immigranten für die arme Lokalbevölkerung wirtschaftliche Konkurrenten, während sie, zusammen mit Tausenden Landflüchtiger, in den Augen des Mittelstandes für die Slums verantwortlich sind, die jeden freien Flecken Erde überwachsen. Neben dem Gestank offener Abwässer wird über die Lautsprecher der Moscheen auch noch die Botschaft Allahs in die Wohnungen der Hindus getragen. Und als visuelles Signal weht die Fahne des Islam zur Demarkation des Territoriums über den Hütten. Mit ihren Symbolen – Stern und Halbmond auf grünem Grund – erinnert sie an die Nationalflagge des Erzfeindes Pakistan.
Für die Shiv Sena ergibt dies eine ideale Mischung von ethnischer und religiöser Absonderung und einen guten Nährboden für ihre Ideologie des mangelnden Nationalstolzes der Muslime. In einem Gespräch gab der Shiv-Sena- Führer Bal Thackeray offen zu, daß er den Muslimen eine Lektion erteilen wollte und die Gelegenheit der Morde an Hindus vor einer Woche ergriff, um sie zu einer Orgie des Hasses explodieren zu lassen. Der – wie seine faschistischen Vorbilder – autokratisch regierende Thackeray kann für seine Schlägertrupps zwar nicht mit der offenen Unterstützung, wohl aber mit der verhohlenen Sympathie vieler Bewohner der Stadt rechnen. Daß die Polizei, der antimuslimische Tendenzen nachgesagt werden, manchmal dem Raub und Totschlag zusahen, war für die Bevölkerung allerdings kaum eine Überraschung mehr. Unverständlich war vielen jedoch die diskrete Rolle, welche die Armee an den Tag legte, obwohl Verteidigungsminister Sharad Pawar die Operation persönlich von Bombay aus leitete.
Für lokale Beobachter sind die Sympathien, welche die Shiv Sena und die oppositionelle Hindupartei BJP heute ernten, vom regierenden Kongreß gesät worden. Während Jahrzehnten hat die Partei die Muslime als Stimmenreservoir gepäppelt und sie unter dem Deckmantel des Minderheitenschutzes extreme religiöse Propaganda betreiben lassen. Dies hat den Begriff des „Säkularismus“ beinahe zu einem Schimpfwort entwertet und ist einer der Gründe, warum die Partei nach der Zerstörung des Ayodhya-Tempels auch politisch nicht fähig war, die Hindu-Welle mit einer glaubwürdigen Gegenstrategie aufzufangen. Es ist symptomatisch, daß Premierminister Rao nicht ein einziges Mal seine Stimme erhoben hat, während die urbs prima in Indis den schwersten Religionskämpfen ihrer Geschichte ausgeliefert war. Dagegen haben sowohl das muslimische Oberhaupt Imam Bukhari wie auch BJP-Führer L.K.Advani angekündigt, sie würden in den nächsten Tagen Bombay besuchen. Es sind, in den Worten eines ratlosen Einwohners, „Gäste, auf welche die in ihrem Stolz und in ihrer Substanz schwer geschädigte Stadt gern verzichten würde“.
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