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Lwow: Ein ganz schön heißes Pflaster

Was Touristen in der Westukraine so alles erleben können. Vom zweifelhaften Vergnügen, im Hotel zu leben. Für 50 Dollar gibt's nichts zu essen, nichts zu trinken und auch kein Bett.  ■ Von Klaus Bachmann

Lwow. Der Regen bricht wie ein dichter, im matten Licht der Straßenlaternen silbrig glänzender Vorhang vom Himmel. Es rauscht und gurgelt im riesigen Speisesaal des Dniester-Hotels, drei Sterne und laut Intourist-Prospekt das beste der Stadt. Eine Gruppe polnischer Geschäftsleute erklärt einem Ukrainer bei Wodka und Äpfeln die Grundlagen der Marktwirtschaft. Sie tun das mit der gleichen Überheblichkeit, mit der weiter westlich deutsche Kleinunternehmer ihr Wissen an den polnischen Mann bringen.

Je weiter der Abend vorrückt, desto fahriger werden ihre Bewegungen, der Pegel in den Flaschen sinkt, der in den Köpfen steigt. Am Ende bleibt der Ukrainer mit einem dicken Polen im Funktionärsanzug mit einer aus der Form geratenen Mönchsfrisur allein. Der polnische Handelsreisende, der immer wieder von „meinem Bisness“ und „meiner Firma“ nuschelt, hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis. Seine Versuche, den Ukrainer zwischen umständlichen Erklärungen zu küssen, scheitern permanent am höflichen, aber entschiedenen Widerstand des letzteren.

Im Dniester gibt es täglich nur zwei Mahlzeiten, Schweinefleisch und Rindfleisch, mit kalten Kartoffeln und noch kälterem Reis, davor (aber nur mittags) Rote-Rüben- Suppe. Darin schwimmt zum Beweis, daß sie auch mit Fleisch hergestellt wurde, ein Knochen. Ansonsten dürfen sich nur die Kartoffeln noch darin aufwärmen. Wer Schweinefleisch bestellt, erhält eine unförmige dunkle, lückenhaft panierte Masse, wer Rindfleisch bestellt, auch. Der Versuch, an Äpfel, wie der inzwischen schnapsselige Pole mit seinem Geschäftspartner, zu kommen, scheitert: „Wir haben hier keine Äpfel, mein Herr, die haben ihre Äpfel selbst mitgebracht.“ In der Tat, zu Füßen des Ukrainers liegt eine große Plastiktüte mit Äpfeln.

Auf den Gedanken scheinen auch die Gäste einer Geburtstagsparty gekommen zu sein, die sich weiter hinten im Speisesaal ausbreiten. Jeder Neuzugang hat eine Torte, Fleisch, Wurst oder Schampanskoje dabei. Da die Vorräte der Hotelküche wirklich höchst bescheiden sind, hat man gegen den Verzehr mitgebrachter Waren offenbar nichts einzuwenden.

Ein Kellner hat sich inzwischen entschlossen, die Schnapsüberschüsse des Hotels höchstpersönlich zu vernichten. Zusammen mit zwei Hotelgästen hat er einer Wodkaflasche bereits nach 20minütiger Rekordzeit den Garaus gemacht. Jetzt hält er sich steif am Tisch fest und protestiert mit scheelem Blick und sabberndem Unterkiefer dagegen, daß die Gäste auch noch die Flasche bezahlen wollen, die er ihnen leergepichelt hat.

Eine Gruppe Jugendlicher erweitert die Geburtstagsparty. Offenbar in genauer Kenntnis der Gepflogenheiten des Hauses haben sie einen kompletten Karton Wodka mitgebracht, ohne Torte. Zwei Deutsche, sofort an bunten Überziehern und neuer Lederjacke als solche erkennbar, lassen sich am Nachbartisch nieder und treten mit einem Kellner in langwierige Verhandlungen über das zu bestellende Menü. Der Erfolg ihrer halbstündigen Verhandlungen ist der gleiche wie meiner: das undefinierbare schwarze Stück Panierfleisch mit der blaßrosa Brühe, die sie hier Borschtsch nennen. Dabei habe ich nicht so lange verhandelt und nur gesagt, man möge mir „irgendwas mit Fleisch bringen“. Inzwischen wird deutlich, daß es sich bei dem Schnapskarton der Geburtstagsgäste – zumindest bei einem der Anwesenden – nicht um den ersten an diesem Tag gehandelt hat. Nach und nach verwaist der betreffende Tisch. Zurück bleibt schließlich ein dunkelhaariger Mann um die dreißig mit wirrem, verschwitztem Haar, der mit glasigen Augen vor sich hinstarrt und dabei in regelmäßigen Abständen von inneren Eruptionen heimgesucht wird, die seine Lippen nach außen blähen und seiner Brust beeindruckende Rülpsgeräusche entreißen. Bevor sie ihn seinem Schicksal überlassen, bestellen seine Begleiter ihm noch ein Mineralwasser, das in der Tat die Kellner vor größeren Aufräumarbeiten bewahrt.

Unterdessen nähert sich der Kellner mit der Rechnung, und ich erfahre die ukrainische Hyperinflation am eigenen Geldbeutel. Das Essen, das gestern noch als Schweinefleisch 200 Rubel gekostet hat, kostet heute als Rindfleisch über 900. Vielleicht liegt das ja auch daran, daß der Kellner gewechselt hat. Nach dem offiziellen Umtauschkurs entspricht das drei, nach dem inoffiziellen anderthalb Dollar bzw. einem Viertel eines ukrainischen Monatslohns. Die Jungs in Lederjacken und mit Schiebermützen, die sich in der Nähe des implodierenden Mittdreißigers niedergelassen haben und Schampanskoje und Wodka mit trockenem Brot (Butter gibt's zur Zeit in keinem ukrainischen Hotel) in sich hineinpumpen, dürften daher dem prosperierenden Gewerbe der Zuhälter, Autodiebe oder einem anderen Zweig der in Lwow allmächtigen Mafia angehören. Sonst wäre ihnen dieses Vergnügen zu teuer, und sie würden ihr Besäufnis in privatem Rahmen abhalten. Trotz des bescheidenen kulinarischen Niveaus ist der Speisesaal damit voll.

Nicht so die Küche, aus der permanent Leute kommen, die sie zuvor nicht betreten haben. Darunter ein imposantes Dreigespann von mit Revolvern und Knüppeln bewaffneten Polizisten, die die Küche gleich zweimal nacheinander verlassen, ohne sie dazwischen noch einmal betreten zu haben. Teilnehmer der Geburtstagsgesellschaft tragen eine Torte von eindrucksvollen Maßen in die Küche, die nicht mehr herauskommt. Wahrscheinlich der Preis dafür, daß die Gesellschaft von der Hotelküche nicht bekocht wird. Das Rätsel der Polizisten löst sich, als eine Gruppe Männer in Straßenkleidung mit Wodkaflaschen auf dem Arm die Küche verläßt. Offenbar gibt es einen Geheimgang von der Stadt zur Küche, der es den trinkwütigen Teilen der Bevölkerung ermöglicht, auch nach Ladenschluß noch an Schnapsvorräte zu gelangen. Die Küchenbelegschaft verdient so ihrerseits noch etwas dazu.

Das Hotel hat unbestreitbar auch seine guten Seiten. Auf denen besteht auch ein jüdisches Ehepaar, das nach zweiwöchiger Irrfahrt durch die Ostukraine auf den Spuren seiner Vergangenheit im Dniester zum Frühstück gestrandet ist. Die beiden waren in Odessa, wo es im Hotel für 50 Dollar die Nacht nicht nur nichts zu essen und zu trinken (Wodka ausgenommen), sondern auch kein Bett gab. Das war kurz zuvor nämlich zusammengebrochen. Daß es trotz des Regens auch kein Wasser gibt, stört sie nicht besonders – auch das sind sie von der Hafenstadt am Schwarzen Meer bereits gewohnt. Der Grund ist einfach: Wir wohnen alle im 18. Stock; bis dahin reicht der Druck nicht. Das sanfte Tröpfeln, das einsetzt, wenn man die Dusche aufdreht, reicht mit viel Geduld gerade noch zum Zähneputzen.

Davon abgesehen ist Lwow wirklich eine sehenswerte Stadt, daß sie sich um Touristen nicht übermäßig bemüht, sollte man ihr nachsehen.

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