: Eichmanns Männer
Die erste wissenschaftliche Monographie ■ Von Götz Aly
Vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung und der europäischen Umbrüche verringerte sich das Interesse an der Analyse der nazistischen Politik spürbar. Im Jahr 1989 wurde aus jener Zeitgeschichte, die definitionsgemäß in die Gegenwart hineinragt, Vergangenes – eben Geschichte.
Diesem Prozeß kann sich niemand erfolgreich entgegenstemmen. Was sich aber tun läßt, ist der Versuch, die zentralen Institutionen und Momente der NS-Herrschaft in Deutschland und Europa weiterhin genau zu analysieren. Ziel dieser Arbeit muß es sein, der im Milieu des Moralisierens besonders gut gedeihenden Mythenbildung entgegenzutreten und die vielen Leerstellen zu füllen. Dazu sind nicht x-beliebige Sammelbändchen erforderlich, sondern gründliche – leider immer seltenere – Monographien und Quelleneditionen.
Wie sinnvoll das ist, zeigt das Buch des Österreichers Hans Safrian über die Dienststelle Eichmanns im Reichssicherheitshauptamt. Tatsächlich wurde über diese ständig reorganisierte, zentrale Schaltstelle der Juden-Überwachung und -Zwangsauswanderung, später der übergreifenden Umsiedlungs-, Vertreibungs- und schließlich Völkermordpolitik – man sollte es kaum glauben – zuvor kein spezielles Buch erarbeitet. Safrians Werk ist systematisch aufgebaut, im Detail exakt und gut geschrieben. Personen- und Institutionsgeschichte sind ausgezeichnet integriert, die einzelnen Stationen und Deportationsschwerpunkte der „Eichmann-Männer“ werden chronologisch nachgezeichnet: von Berlin über Wien bis Prag, von Posen über Bratislawa und Saloniki bis Budapest.
Insbesondere gelingt es dem Autor auf Grund umfassender Quellenstudien, die Umsiedlungs- und Judenpolitik des RSHA nicht alleine aus der Perspektive der Täter darzustellen, sondern auch die Erinnerungen, Briefe und Zeugenaussagen der wenigen überlebenden Opfer miteinzubeziehen. So berichtet Safrian beispielsweise ausführlich von dem wenig bekannten Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk, in dem mit Hilfe von Gaswagen – dushegubkas (Seelenzerstörer), wie die russischen Anwohner sagten – mindestens 30.000 deportierte Juden aus Mitteleuropa und Zehntausende weißrussischer Juden ermordet wurden. Acht Menschen sollen überlebt haben.
Was aus der Perspektive der Reichsbahner die „Gestellung von Sonderzügen für Umsiedler, Erntehelfer und Juden“ war, stellt sich in der SS-eigenen Sprache so dar: „Am 11.5. traf ein Transport mit Juden (1000 Stück) aus Wien in Minsk ein“; sie wurden „gleich vom Bahnhof zur Grube geschafft“ – dazu „war der Zug direkt an der Grube eingesetzt“. Ein Überlebender berichtete später: „Der Zug hielt ungefähr 15 Kilometer hinter Minsk auf freiem Feld; vor jedem Wagen standen drei SS-Männer mit Maschinenpistolen im Anschlag, wir mußten Mäntel und Gepäck im Zug lassen, Geld und Uhren abgeben, von den 1000 Deportierten dieses Transportes wurden 44 Männer zur Zwangsarbeit selektiert...“
Safrian widerlegt mit diesem Buch erneut diejenigen Forscher, die von einem Führer-Befehl zur Ermordung der europäischen Juden ausgehen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit belegt Safrian, daß Hitler Pläne vorgelegt wurden, er mit Interessengegensätzen und Schwierigkeiten konfrontiert wurde, die sich aus der einmal begonnenen Diskriminierungs-, Enteignungs- und Deportationspolitik ständig neu ergaben. Hitler ermutigte die Endlöser, nickte zu ihren Vorschlägen, einen definitiven Befehl gab er nie. Hauptsache, die selbstgeschaffene „Frage“ werde „gelöst“ – egal wie.
So gesehen bestätigt auch die Arbeit Safrians die seit langem von Hans Mommsen vorgetragene These von der kumulativen Radikalisierung, die schrittweise zum Mord an den europäischen Juden geführt habe. Während aber Mommsen von einem gewissermaßen entpersönlichten Ablauf – „Automatismus“ – ausgeht, kann man anhand der Arbeit Safrians nun einige Stationen des Entscheidungsprozesses der Exekutoren genauer umreißen. Unter diesem Blickwinkel allein lassen sich die Entscheidungsprozesse, die zum Mord an den europäischen Juden führten, nicht ergründen. In absehbarer Zeit aber wird es möglich sein, diese ihrer Struktur nach nicht abnormen politischen Entscheidungsabläufe genau und komplex darzustellen. Dabei ist es prinzipiell möglich, die beteiligten Institutionen und Personen, ihre Motive und Absichten zu benennen. Hans Safrian hat das nicht getan. Es war nicht sein Anspruch. Aber er hat dazu beigetragen und ein wissenschaftlich anspruchsvolles und gut zu lesendes Buch geschrieben.
Hans Safrian: „Die Eichmann-Männer“, Europaverlag, Wien-Zürich, 1992, 376 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 54 DM
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