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■ Die UNO angesichts des weltweiten SouveränitätszerfallsWenn der Staat verschwindet

„Die UNO leidet an einem Übermaß an Glaubwürdigkeit“ – Butros Ghalis jüngster Aphorismus gegenüber der Tageszeitung Le Monde vom 13.1. beleuchtet treffend das Dilemma, in das die Weltorganisation geraten ist. Überspannte Erwartungen drohen in maßlose Enttäuschung umzuschlagen. Die größeren Missionen in Kambodscha, Angola, Jugoslawien, der West-Sahara stehen am Rande des Scheiterns. Weder finanziell noch organisatorisch noch von den völkerrechtlichen Möglichkeiten her ist die UNO gerüstet, eine Situation zu meistern, in der der Riß zwischen den ihr übertragenen Aufgaben und dem Willen der Staatengemeinschaft, sie dazu in Stand zu setzen, unüberbrückbar zu werden droht.

Der Kern des Problems liegt im Konzept der nationalen Souveränität. Viele der im Prozeß der Entkolonialisierung entstandenen neuen Staaten sahen zu Recht im völkerrechtlichen Prinzip der Nichteinmischung eine Waffe, sich gegenüber der Hegemonie der großen Mächte zu behaupten. Aber die Erfolge, die sie bei dem Versuch einer eigenständigen Entwicklung erzielten, die Stabilität der Blockfreien-Bewegung, zu der sie sich zusammenschlossen, waren abhängig von der Existenz der beiden Supermächte. Die Rivalität der USA und der Sowjetunion waren ihr Lebenselixier, Quelle der Subsidien, der Waffenlieferungen und – der Feindbilder, die für den inneren Zusammenhalt der neuen Staaten lebenswichtig war.

Wir erleben gegenwärtig in einer Reihe der neuen Nationalstaaten als Folge von Bürgerkriegen den Zusammenbruch nicht nur irgendeines Regierungssystems, sondern des gesamten Staatsapparats. Im Gegensatz zu den „klassischen“ Nationalstaaten, wo der gesellschaftliche Zusammenhang stark genug wäre, wenigstens zeitweilig die zusammengebrochenen Staatsfunktionen zu ersetzen, bricht hier das nackte Chaos aus. Selbst eingefleischte Anhänger der Staatsallmacht wie Thomas Hobbes sprachen die Untertanen in dem Augenblick, in dem der Staat sie nicht mehr schützen kann, von ihrer Gehorsamspflicht los. Aber an wen sollen sich die gequälten Staatsbürger wenden, wenn Leviathan am Boden liegt, Behemoth triumphiert und weit und breit kein starker Arm zu sehen ist? Die religiösen und ethnischen Konflikte, aus denen sich die Mehrzahl der heutigen Bürgerkriege nährten, sind immer älteren Geburtsdatums als die Nationalstaaten. Ihnen ihre blutige Schärfe zu nehmen, hätte es eines langen gesellschaftlichen Prozesses der Abschleifung bedurft, innerhalb dessen sich das kollektive Gedächtnis mit harmloseren Inhalten füllte. Aber in vielen der multinationalen und multireligiösen neuen Staaten wurde seitens der Machtelite nur der berühmte Deckel auf den Dampftopf geschraubt, nicht aber die Hitzequelle zurückgedreht. Nationale Souveränität bedeutete die Monopolisierung des Macht- und Gewaltmonopols für eine Ethnie, für ein Bekenntnis. Das war sogar im „internationalistischen“ Jugoslawien Titos der Fall, wo die Serben die eigentliche Staatsnation waren und ihre Machtelite die Kommandohöhen der zentralen Nomenklatura besetzt hielt. Es ist diese Machtelite, die für die Sicherung ihrer Pfründe die niederen Dämonen entfesselt hat.

Der Zerfall aller Staatsgewalt in Kambodscha, Somalia und anderswo konfrontiert die UNO mit mindestens zwei fast unlösbaren Problemen: Wie kann die nationale Souveränität respektiert und gleichzeitig den Bürgern eines Staates geholfen werden, die hilflos dem Wüten rivalisierender Kriegsmaschinen ausgesetzt sind? Muß die UNO, gewissermaßen ad hoc, ein Interventionsrecht angesichts des drohenden Massensterbens praktizieren? Das zweite Problem betrifft das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit in den Territorien (den Nachfolge-Kandidaten) eines auseinanderfallenden Staates. Kann die Staatengemeinschaft den Schutz der jeweiligen Minderheit durchsetzen und Massenvertreibungen verhindern? Oder kann sie erst eingreifen, wenn ein Völkermord vonstatten geht, mithin, wenn es zu spät ist?

In einigen Fällen nimmt die UNO bereits jetzt Funktionen eines vorübergehenden Ersatz-Staates wahr. Nicht ohne Erfolg. In Kambodscha hat sie 230.000 Flüchtlinge repatriiert und deren Versorgung übernommen. Sie scheint trotz der massiven Einschüchterungskampagne der Roten Khmer die Registrierung der Wähler erfolgreich zu Ende zu bringen. Hingegen hat sie in den Schutzzonen Kroatiens vollständig versagt und zwar deshalb, weil sie örtliche Polizei und Verwaltungsfunktionen nicht übernommen hat. So wurde die Rückkehr der Flüchtlinge unmöglich, die „ethnische Säuberung“ geht munter weiter. In Somalia wiederum haben die Interventionsmächte noch nicht den Schimmer von Bereitschaft erkennen lassen, für eine längere Übergangsperiode Staat zu spielen. Die USA glauben im Ernst, in einigen Wochen oder Monaten ein Minimum geregelter (Überlebens)Verhältnisse schaffen zu können.

Betrachtet man diese Probleme von der geltenden Satzung her, so operiert die UNO schon jetzt in der Grauzone zwischen den Blauhelmaktionen (peace-keeping), die im Einvernehmen aller Streitparteien durchgeführt werden und bewaffneten Interventionen (peace-enforcement), die sich gegen einen Aggressor richten und natürlich ohne dessen Einwilligung erfolgen. Der Schutz humanitärer Hilfstransporte, die Einrichtung von Schutzzonen für Flüchtlinge, das geplante Flugverbot über Bosnien bezeichnen allesamt Projekte bzw. tatsächliche Schritte hin zu einem „aktiven“ (Barbara McDougall) bzw. „robusten“ (Winrich Kühne) Peace-Keeping. In seiner „Agenda für den Frieden“ vom Juni 1992 hat Butros Ghali den Versuch unternommen, die verschiedenen Friedensaufgaben der UNO in Beziehung zu setzen, wobei er zwischen Prävention einschließlich vorbeugender Einsätze von UNO-Truppen, friedensschaffenden Maßnahmen und Aktionen der Friedenskonsolidierung unterscheidet.

Herausragend unter den von Ghali vorgestellten Projekten ist der Vorschlag, eine jederzeit abrufbare Eingreiftruppe aus Freiwilligen der Mitgliedsstaaten aufzustellen. Sie würde unter dem Oberbefehl des UNO-Generalsekretärs stehen und könnte auf Beschluß des Sicherheitsrats in Aktion treten. Es handelte sich hierbei nicht um eine UNO-Armee, denn die Einheiten verblieben in ihren jeweiligen nationalen Verbänden. Aber sie erhielten ein einheitliches Ausbildungsprogramm. Frankreich, Rußland und alle skandinavischen Staaten haben zugesagt, sich an einer solchen Streitmacht zu beteiligen. Ebenso eine Anzahl von Staaten der Dritten Welt. Die USA haben bislang strikt abgelehnt, wobei sich allerdings unter Clintons Beratern eine Tendenzwende anzukündigen scheint. Dieser Vorschlag Ghalis ist bemerkenswert, weil er realistisch und sofort umzusetzen ist, weil er Interventionen unterhalb der Schwelle des Irak-Konflikts der Kontrolle der UNO unterwirft und damit eine breitere Legitimationsbasis für Friedensaktionen herstellen kann. Er ist ausbaufähig, weil nach seinem Vorbild ein Verwaltungs- und Techniker-Korps gebildet werden könnte. Er ist finanzierbar, weil die beteiligten Nationen gemäß den von ihnen gestellten Kontingenten beitragen.

Und er wäre geeignet, die Blauhelm-Diskussion in der Bundesrepublik mit einem realistischen UNO-Projekt zu verknüpfen. Die SPD könnte ihr Ja zur Verfassungsänderung an die Zustimmung zu Ghalis „Agenda für den Frieden“ binden. Bezeichnend, daß sie das bislang nicht getan hat. Christian Semler

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