: Sehnsucht nach Erotik
■ Das Theater Wolgograd mit Semjon Zlotnikows Komödie
Vor anderthalb Jahren nahm das kleine Kölner Theater am Sachsenring an einem kleinen Theaterfestival in Wolgograd teil, im ehemaligen Stalingrad. Die Kölner gewannen zwei Preise im gerade erst frisch gegründeten Neuen Experimental Theater Wolgograd (NET). Und luden nun umgekehrt, gefördert vom Auswärtigen Amt und dem Kulturministerium, den Wolgograder Regisseur Otar Iwanowitsch Djangischeraschwili mit einer Produktion nach Deutschland ein: mit „Mann und Frau“ des Autors Semjon Zlotnikow, einer Komödie um Liebe und Einsamkeit irgendwo im großen, weiten Rußland.
Eine Frau mittleren Alters sucht einen Mann. Er kommt, schüchtern, ungeübt im aufrechten Gang – eine viertel Stunde zu früh zum ersten Rendezvous. Die Liebe entflammt trotzdem, entflammt wie vereinbart, morgen wird geheiratet. Das Kribbeln der beiden im Bauch hat nichts Süßes, nur Nervöses. Die Konversation schmeckt nach Vertragstext. Die gemeinsamen Wünsche an die Ehe werden taktisch vorgetragen. Er (Valery Guriev) will von der Ehe gebunden sein. Sie (Lydia Matasowa) gewährt ihm den Wunsch, fesselt ihn an Armen und Beinen. „Ich will“, sagt sie, „daß alles wie bei Menschen ist. Ohne Verletzungen.“ Er wird ihr nichts tun. Das gemeimsame Ehevorhaben wird fromm besiegelt: „Sogar wenn es schlecht ist, muß es trotzdem gut sein.“ Russen lieben mehrdeutige, übertragbare Sätze. So sehr Temperament vorgelegt wird, bleibt das Spiel der beiden stumpf. Weinerlich. Trist und grau.
So, sagt der georgische Regisseur Otar Iwanowitsch Djangischeraschwili, sei's auch in der Realität. Nach der Aufführung treffe ich ihn und Joe Knipp, den Leiter des Kölner Zimmertheaters, im „Wienerwald“. An geputzten Resopaltischen spricht Joe Knipp über den Geist der Freundschaft und der Verbundenheit. Otar Iwanowitsch Djangischeraschwili lächelt. Ob mir das Stück gefallen habe? – Nein. Er lächelt. Die Hendl werden aufgetragen. 1991 eröffnete er das ehemalige Gorki- Drama-Theater mit „Romeo und Julia“ und einem ansehnlichen Erfolg. Das Stück „Mann und Frau“ ist in Wolgograd ein Renner. „Ich bin erstaunt“, sage ich, „was für eine seltsame Art von Erotik haben Ihre Landsleute?“ „Sie sind einsam“, sagt Djangischeraschwili ohne zu zögern, „auch im Bett, nachts.“ Und fügt hinzu: „Das ist kein russisches Problem. Einsamkeit ist das Hauptproblem des 20.Jahrhunderts. Wir wollen alle gefesselt werden, nicht wahr?“ Ich nicke vorsichtig mit dem Kopf. Gebe zu, an Bondage zu denken, nicht an das Hauptproblem des 20.Jahrhunderts. „In Wirklichkeit ist die Einsamkeit ein sexuelles Problem. Sexualität ist ein Hauptproblem des 20.Jahrhunderts“, sagt Djangischeraschwili. Mit seinem Stück wolle er dagegen „mystischen Widerstand, Aufklärung“ leisten. Das Wort „mystisch“ ist mir fremd. Er ist erstaunt. Er nennt Schillers „Räuber“, Nietzsche, Kafka. Sie seien Aufklärer mit mystischem Geist. Ein Tolstoi, denke ich mir. Nur glattrasiert. Der Künstler als Lehrer. Versuche, den Gedanken als Frage zu formulieren. „Natürlich ist der Künstler ein Lehrer der Nation.“ Wie ich daran zweifeln könne?
Ich nehme einen Schluck, presche vor: „Ein Lehrer in Sachen Liebe?“ „Ja, ja, ja doch“, ruft er, „man sagt, die Russen seien verklemmt. Vielleicht stimmt es. Sie sind prüde.“ Nimmt einen Schluck. „Unsere Kultur ist zerstört. Erotik ist ein weißer Fleck bei uns. Ein dunkles Kapitel, das stets mit Politik konkurrieren mußte. Das Mystische der Erotik, das ist unsere Sehnsucht. Eine melancholische, eben einsame Sehnsucht. Weil sie jeder Ideologie entgegenstand. Wir sind sterilisiert.“ Ich schweige. Er lächelt. Ich lächele zurück, frage: „Kastrierte Kultur?“ „Ja“, sagt er, auch wenn es dir nicht gefällt, „dieses Selbstbemitleiden, dieses Weinerliche. Das ist wegen des Verlustes. Etwas Verlorenes, Mystisches, die Erotik unserer Kultur...“ Und fügt messianisch- mystisch hinzu: „Wir müssen wieder glauben lernen.“ Arnd Wesemann
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