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Indiens zwei Fundamentalismen

■ Die mörderische Gewalt in Indien ist Kehrseite einer falschen Entwicklungspolitik

Die Ereignisse seit der Zerstörung der Moschee von Ayodhya durch Hindu-Fundamentalisten am 6. Dezember könnten sich als das größte Unglück erweisen, das Indien seit der Unabhängigkeit erlitten hat. Von den – nach offizieller Bilanz – 1.200 Toten der darauffolgenden Unruhen abgesehen, haben sich Gewaltausbrüche seither fortgesetzt: besonders in Ahmedabad im Bundesstaat Gujarat und, vielleicht überraschenderweise, in Bombay – der reichsten und „westlichsten“ Stadt des Subkontinents, das als das „New York Indiens“ gilt.

Bombay ist nicht nur die reichste Stadt Indiens, sondern galt auch bis vor kurzem als Heimstätte der bestorganisierten Arbeiterschaft des Landes. Der lange Textilstreik der frühen 80er Jahre veränderte dies. Die sozialistische Gewerkschaft „Kamgat Aghadi“ rief 1982 zum Streik auf, nachdem sie bereits Vergünstigungen für viele andere Arbeitergruppen Bombays errungen hatte. Das erwies sich als Katastrophe. Der Streik bot den Textilfabrikanten die Gelegenheit, technologische Modernisierungen vorzunehmen und damit große Teile der streikenden Arbeiterschaft überflüssig zu machen. Aber die Schließung vieler Textilfabriken – mit dem Resultat einer Kahlschlagsarchitektur, die vielen zentralen Vierteln Bombays das Angesicht einer tropischen, merkwürdig archaischen Industriewüste verleiht – war nicht nur ein schwerer Schlag für die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen, sondern auch der Nährboden für den Aufstieg der fundamentalistischen Hindupartei „Shiv Sena“.

Bombay, Menetekel der Intoleranz

„Shiv Sena“ unter ihrem charismatischen Führer Bal Thackeray nährte das Feuer antimuslimischer Gefühle – Muslime stellen 30 Prozent der Bevölkerung Bombays – und die Abneigung auch gegen Zuwanderer aus anderen Teilen Indiens. Mit der Parole „Maharashtra den Maharathen“ – Bombay ist die Hauptstadt dieses Bundesstaates – errang „Shiv Sena“ 1985 die Kontrolle über den Stadtrat, verwaltete viele Slumgebiete über goondas (Gangsterbanden) und nährte damit Fremdenfeindlichkeit und antimuslimische Agitation.

In diesem Sinne war Bombay die Speerspitze einer Entwicklung, die sich bald auf ganz Indien ausbreitete und den Aufstieg der hindu-nationalistischen „Bharatiya Janata Party“ (BJP) vorwegnahm. Die BJP stärkte den Hindu-Fundamentalismus von den Rändern der indischen Gesellschaft aus und ist seit den Wahlen von 1991 mit 119 Parlamentssitzen die stärkste Oppositionspartei des Landes. In Bombay verlor „Shiv Sena“ vor zwei Jahren die Wahlen, und seitdem regiert die Kongreßpartei die Stadt. Aber die Saat war bereits aufgegangen.

Der unaufhaltsame Aufstieg der BJP

Der landesweite Erfolg der BJP gründete sich fast ausschließlich auf ihr Versprechen, die Babri- Masjid-Moschee auf dem Geburtsort des Hindugottes Ram in Ayodhya abzureißen. Das Problem ist mehrere Generationen alt: Nach der Unabhängigkeit wurde ein Ram-Abbild in die Moschee gestellt und dort eingeschlossen. Aber es war kein Streitpunkt mehr, bis Rajiv Gandhi, Sohn der damaligen Premierministerin Indira Gandhi, es in den frühen 80er Jahren wieder aufnahm, um Beschuldigungen entgegenzutreten, die Kongreßpartei sei der muslimischen Minderheit zu wohlgesonnen.

Die BJP machte dies zum Symbol ihrer Kampagne für einen Hindustaat. So wurde der Tempelstreit zum Ersatz für die Entwicklung konventioneller Politik auf anderen Gebieten: Ayodhya allein, kalkulierte die Parteiführung, würde die BJP an die Macht tragen.

Seit dem 6. Dezember sind mehr Menschen in Bombay ums Leben gekommen als in jeder anderen indischen Stadt. In den unmittelbaren Nachwirkungen der Moscheezerstörung waren die Toten vorwiegend Muslime aus dem Stadtzentrum, die meisten von ihnen Opfer der Polizei. Seitdem haben sich die Unruhen auf viele Slumgebiete ausgedehnt. Manche Gewaltakte sind von Grundbesitzern und Immobilienentwicklern angestachelt worden, die wertvollen Boden von ungewollten Landbesetzern „säubern“ wollen; Gangster setzen Arbeitslose zum Feuerlegen und Plündern ein.

Westlicher Fundamentalismus

Warum Bombay? Abgesehen davon, daß es mit 17.676 Menschen pro Quadratkilometer (gegenüber 3.892 in Berlin) eine der dichtestbevölkerten Städte der Welt ist, leben mehr als die Hälfte der 12 Millionen Einwohner in Slums. Die einfachsten Hütten sind kaum 90 Zentimeter hoch, Unterkünfte aus Plastikfolie und Palmblättern, häßlich und ohne jeglichen Komfort. Trinkwasser und Luft sind verseucht von den Gerbereien Dharavis, dem größten Slum Asiens.

Zweifellos ist der wachsende Hindu-Fundamentalismus auch dem weltweit zunehmenden Selbstbewußtsein des Islam geschuldet. Die Flexibilität, Toleranz und Offenheit, die stets die Hindu- Religion auszeichnete – im Gegensatz zur sozialen Starre ihres Kastensystems –, ist von der BJP und ihren Verbündeten zu steifer Dogmatik verhärtet worden. Es gibt jedoch einen zweiten Fundamentalismus, der die gegenwärtige Polarisierung innerhalb des indischen Volkes mitverursacht hat: den Fundamentalismus des Westens, der nicht mehr in heiligen Texten und Offenbarungen daherkommt, sondern in den materiellen Gewißheiten ökonomischer „Gesetze“. Er wird durch die Finanzinstitute Weltbank und Internationaler Währungsfonds und die Forderungen des GATT durchgesetzt, was Verlust von Souveränität und wachsende Verarmung der verwundbarsten Bevölkerungsschichten zur Folge hat.

Inwiefern ist die auch in Indien umgesetzte Liberalisierungs- und Reformpolitik mitverantwortlich für die Krise des säkularistischen Staates? Der westliche „Säkularismus“, der 40.000 verhungernde Kinder pro Tag nicht als Makel seiner eigenen Wirtschaftskraft begreifen kann, sieht in der wachsenden Zahl von „Entwicklungsflüchtlingen“ keinen Widerspruch zu seiner eigenen Politik. Bombay ist voll von solchen Flüchtlingen: Landlose, die auf Gehsteigen und unter Brücken hausen, die ihre Lebensgrundlage anderswo verloren haben.

Es wäre vereinfachend und falsch, zwischen der Gewalt und der Liberalisierung in Indien eine monokausale Verbindung zu knüpfen; dennoch muß sie berücksichtigt werden. Trotz der Rhetorik radikalen Wandels, die die Regierung Rao seit ihrer Amtsübernahme 1991 bemüht, geht es der neuen Administration nicht um die Linderung der Armut, sondern um die Mehrung von Reichtum – und das ist nicht dasselbe. Zudem begann die Liberalisierung nicht mit dem Antritt der Rao-Regierung. Sie ist die Fortsetzung einer Politik, die von Rajiv Gandhi in der zweiten Hälfte der 80er Jahre einen entscheidenden Impuls erhielt. Und es ist schwer, in einem seit jeher von Massenarmut und außerordentlicher sozialer Ungleichheit gekennzeichneten Land vor weiterer Verarmung zu warnen, wenn diese bereits die Erfahrung von ganzen Generationen großer Teile der Bevölkerung ist.

Liberalisierung – oder die Erzeugung von Unsicherheit

Zu fragen ist: Kann eine liberale Wirtschaftspolitik, die auf Ungleichheit aufbaut, althergebrachte Ungerechtigkeiten überwinden? Und wenn nicht, was bewirkt sie dann?

Während es nicht leicht ist, diesen oder jenen Verarmungsprozeß auf diese oder jene politische Entscheidung zurückzuführen, lassen sich doch einige wichtige Tendenzen ausmachen. Unsicherheit breitet sich aus: unter traditionellen Unternehmen, die von konkurrenzfähigeren Multinationalen verdrängt werden; unter Staatsbediensteten, von denen viele entlassen werden; unter den Armen, die das rapide Ansteigen der Lebensmittelpreise besonders hart trifft. Der Druck auf Industrialisierung der Landwirtschaft, um für den Export zu produzieren und dadurch die Auslandsschulden von 70 Milliarden US-Dollar zu bedienen, verdrängt mehr und mehr Subsistenzbauern vom Land: Allein nach Bombay kommen täglich 300 Landflüchtige.

Die neue Landwirtschaftspolitik, im November 1992 vom Kabinett verabschiedet, betont die Notwendigkeit höherer Agrarprofite „durch die Förderung größerer öffentlicher und privater Investitionen in infrastrukturelle Entwicklung und höhere Agrarexporte“. Abgesehen von den erwarteten höheren Ausfuhren von Obst, Blumen, Geflügel und Vieh sei es wichtig, die Abhängigkeit vom Land zu verringern, sagte Landwirtschaftsminister Balram. Absehbar ist damit, daß die Arbeitslosigkeit weiter steigen wird – zugleich steht auch eine Entlassungswelle im öffentlichen Dienst bevor – 35 Millionen sind registriert, schätzungsweise weitere 50 Millionen nicht einmal erfaßt.

Flucht in die Mythen

Feudale Geldverleiher sind für diejenigen, die von ihnen ruiniert werden, immerhin sichtbare Personen. Aber IWF und Weltbank sind weniger greifbare Täter. Als Antwort auf sie suchen die Menschen Zuflucht in intakten Weltbildern. Dies kann sich militant äußern.

Die Opposition gegen die Reformen und die angebotene Alternative einer Rückkehr zur svadeshi (die von Gandhi propagierte self- reliance) kam ursprünglich von der Linken – Gandhi-Anhänger, Sozialisten und die linksliberale „Janata Dal“. Nun ist sie von der BJP vereinnahmt worden. Zwar ist die Feindseligkeit der BJP gegenüber der neuen Liberalisierung eingeschränkt: ihre Basis besteht aus einheimischen Kapitalisten, Kleinunternehmern und der neuen Hindu-Mittelklasse. Ihr Ziel ist innere Liberalisierung statt Ausrichtung auf den Weltmarkt. Doch: Die Abkehr von self-reliance spiegelt sich in den Leben vieler Individuen wider, und wachsende Unsicherheit ist der fruchtbarste Boden für eine Suche nach mythischen Identitäten, die eine Rückkehr zu einer glorreichen Vergangenheit vorgaukelt. Darin liegt die Anziehung des Hindu-Fundamentalismus.

„Verwestlichung“ außen, Traditionalismus innen

Weder das liberale Entwicklungsmodell westlicher Fundamentalisten noch die blutgetränkten Hindu-Reichs-Illusionen der BJP bieten der großen Mehrheit der indischen Bevölkerung irgendeine Aussicht auf Verbesserung ihres Lebens. Die dramatischen Auswirkungen der Reformpolitik einerseits und die Rückkehr zum Hindu-Fundamentalismus andererseits, der Gegensatz zwischen „Modernisierern“ und „Traditionalisten“, ist selbst eine falsche Polarisierung innerhalb einer einzigen Spirale von Enteignung und Verunsicherung; beide nähren einander und überschatten Versuche, Alternativen zu finden.

Wie es Ashgar Ali Enginerer vom „Zentrum für Islamische Studien“ in Bombay sagt: „Wenn Verwestlichung von oben verfügt wird, leben die Menschen ein verdoppeltes Leben. Sie mögen einen höheren Lebensstandard genießen, aber sie sind geistig zerrissen zwischen dieser materiellen Veränderung und ihren Pflichten. Äußerlich werden sie westlicher, innerlich traditionalistischer. Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten rennen sie zum babu oder fakir. Dann wird die Religion zum Aberglauben.“

Die Erwartung einer endlosen Leidensfähigkeit der Armen ist das Fundament für die blutigen Tempel sowohl der westlichen Abenteurer wie auch der Hindu- Träumer. Die regierende Kongreßpartei bietet kein Entwicklungsmodell außer dem Versprechen unendlichen Reichtums, und sie berücksichtigt nicht die Auswirkungen der wirtschaftlichen Liberalisierung in anderen Ländern. Statt dessen sagte der Finanzminister am 12. Dezember, die Ereignisse von Ayodhya seien ein zusätzliches Argument für Liberalisierung: „Dies beweist doch, daß der Staat sich übernommen hat, daß unser System zu stark reguliert und schlecht regiert war.“

Versagen des Staates, Erfolg der Gewalt

Es ist die indische Regierung, die dem Flächenbrand des Hindu- Fundamentalismus den Zündstoff geliefert hat. In Indien leiden 425 Millionen Menschen an Unter- oder Fehlernährung – das ist die Bevölkerung Nord- und Zentralamerikas. Die Zahl der Sehgeschädigten ist so hoch wie die Bevölkerung Frankreichs. Es gibt vier Millionen Leprakranke – die Bevölkerung Norwegens – und 17 Millionen Tuberkulosekranke – die Bevölkerung Australiens.

Immer mehr hat der Kampf zwischen Religionen in den letzten Wochen den eines Krieges zwischen Arm und Reich angenommen. In Bombays Slumvierteln Mahim, Jogeshwari und Dharavi wüten Großfeuer; Grundbesitzer und Mafiosi reißen Land an sich, das für die Besiedlung durch Arme zu wertvoll ist. Wenn der Staat die Vermittlung zwischen ethnischen Gruppen und den Schutz der Benachteiligten nicht mehr wahrnimmt – wie kann man hoffen, daß der Liberalismus sich auf Ökonomie beschränkt und nicht auch Haß und Gewalt, genährt durch Unsicherheit, hervorbringt? Es sollte nicht verwundern, daß die melancholische Antwort auf das Versagen des Staates in Bombay gegeben wird, die Stadt mit einigen der spektakulärsten Ungleichheiten der Welt.

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