: Soziales Netz wird grobmaschig
■ Drei Prozent weniger Arbeitslosengeld für Kinderlose/ Solidaritätszuschlag wird ab 1995 eingeführt/ Wohlfahrtsverbände gründen Nationale Armutskonferenz
Bonn/Berlin (dpa/AFP/taz) – Die Bonner Regierungskoalition konnte sich auch gestern noch nicht endgültig auf Sparvorschläge für den Solidarpakt einigen. Den Fraktionen wurde ein 50seitiges Papier mit weitreichenden Sparplänen vorgelegt. Die FDP-Fraktion will jedoch heute abend nochmals über den Solidarpakt beraten.
Zur Finanzierung des Nachtragshaushaltes 1993 plant die Regierungskoalition Einsparungen bei Sozialleistungen und Subventionen in Höhe von 18 Milliarden Mark. Nach Angaben von Finanzminister Theo Waigel sollen 9 Milliarden im Leistungsbereich eingespart werden, die andere Hälfte soll durch den Abbau steuerlicher Subventionen zustande kommen. Von 1995 an soll es wieder einen Solidaritätszuschlag geben. Zur Finanzierung der Bahnreform, die jährlich 12 bis 14 Milliarden Mark kostet, soll eine Straßenbenutzungsgebühr eingeführt und die Mineralölsteuer erhöht werden.
Bei den Sozialleistungen sind erhebliche Kürzungen vorgesehen. Die Leistungen für Arbeitslose mit mindestens einem Kind sollen um ein Prozent, für alle anderen um drei Prozent gekürzt werden. Dies gilt für die Arbeitslosenhilfe, das Arbeitslosengeld, das Kurzarbeitergeld, das Altersübergangsgeld und das Schlechtwettergeld. Diese Kürzung soll nicht durchgeführt werden, wenn bis zum 15. Mai 93 nachgewiesen wird, daß durch Einführung von Meldepflichten für Arbeitslose und Bekämpfung von „Mißbrauch“ von Leistungen jährlich eine Milliarde Mark gespart werden kann.
Für höhere Einkommensgruppen soll der Wohngeldanspruch gekürzt werden. Wie im Vorfeld angekündigt, soll das Kindergeld oberhalb einer Einkommensgrenze ab 100.000 Mark brutto bei drei Kindern für jedes Kind auf einheitlich 70 Mark im Monat festgelegt werden. Das Erziehungsgeld, das bisher vom siebten Monat an einkommensabhängig gewährt wurde, wird künftig von der Geburt des Kindes an nur innerhalb der geltenden Einkommensgrenzen gewährt.
Für die Sozialhilfe wird an eine „Anpassung“ gedacht. Um einen „angemessenen Abstand zwischen Lohnersatzleistungen und Sozialhilfe“ zu gewährleisten, seien folgende Maßnahmen denkbar: eine „Rückführung“ der Regelsätze, die Begrenzung der Mehrbedarfszuschläge für Erwerbstätige, eine Anhebung der Altersgrenze bei Mehrbedarfszuschlägen für alte Menschen von 60 auf 65 Jahre sowie eine restriktive Bewilligungspraxis bei einmaligen (Kann-)Leistungen. Sachbearbeiter sollen künftig Mehrbedarfszuschläge nur gewähren, wenn ein „angemessener Abstand“ zu Empfängern von Arbeitlosengeld und -hilfe gewahrt bleibt.
Die Mehrbedarfszuschläge betragen gegenwärtig 20 Prozent des durchschnittlichen Regelsatzes von 508 Mark, also 101 Mark. Damit soll beispielsweise bei alten Menschen ausgeglichen werden, daß sie wegen Gebrechlichkeit oft nicht die preisgünstigste Einkaufsmöglichkeit nutzen können. Durch Einsparungen bei der Sozialhilfe sollen die Gemeinden 1993 700 Millionen Mark sparen, in den darauffolgenden Jahren 1.400 bzw. 1.600 Millionen Mark.
Aber auch im öffentlichen Dienst soll gespart werden. Besoldungsrechtliche und tarifliche Sonderzuschläge sollen „zurückgeführt“ werden.
Nationale Armutskonferenz gegründet
Mit einem eindringlichen Appell gegen Kürzungen für Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose hat sich am Dienstag in Bonn eine Nationale Armutskonferenz vorgestellt. „Die Schwächsten unter uns haben bei allen Sparmaßnahmen absolut tabu zu sein“, erklärte der Sprecher der Initiative, Ulrich Schneider. Dies zeigten weiter wachsende Zahlen von jetzt schon vier Millionen Empfängern von Sozialhilfe während eines Jahres, 150.000 Obdachlosen und über drei Millionen ohne Arbeit.
In der Nationalen Armutskonferenz, die am Dienstag ihr Positionspapier vorstellte, haben sich die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik sowie Fachverbände und Selbsthilfeorganisationen zusammengeschlossen.
Die Organisationen, die täglich mit sozialer Not konfrontiert sind, stellten fest, daß sich der Staat seit Jahren aus seiner sozialpolitischen Verantwortung zurückzieht. Beispielsweise sinke der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt seit zehn Jahren. Zugleich sei die Zahl der Menschen, die im Lauf eines Jahres den Gang zum Sozialamt antreten, von 1980 bis 1990 um über 76 Prozent gestiegen. Im Unterschied zu früher seien es inzwischen überwiegend Menschen im erwerbsfähigen Alter, die arbeiten könnten und wollten.
Die stellvertretende Vorsitzende, Erika Biehn, zitierte die Ergebnisse einer 1991/92 durchgeführten Studie, wonach die Sozialhilfe im Schnitt 20 Tage reicht. Die meisten dieser Menschen ernährten sich gegen Monatsende immer kärglicher, nämlich mit Kartoffeln, Nudeln, Marmeladenbroten und Puddingsuppen.
Die Bundesrepublik stehe gut zwei Jahre nach ihrer Vereinigung vor einer Zerreißprobe, meinte Schneider. Die jetzt anstehenden sozialpolitischen Entscheidungen bedeuteten eine Weichenstellung für das neue Deutschland: Es gehe darum, ob das vereinte Deutschland ein Sozialstaat bleibe oder sich zu einem Staat wandele, der Schwache ausgrenze. win
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