: Können Fische lesen?
■ Die zehnte Literarische Woche in Bremerhaven
Kann in einer kleineren literarisch spurenfreien Großstadt ein Interesse an Literatur gedeihen? Der von den Eingeborenen Bremerhavens liebevoll gepflegte Spitzname „Fishtown“ zitiert die Geschäftigkeit am Wasser und die Sprache der abziehenden Besatzungsarmee. Literarisch war die Stadt ein stilles Pflaster, als vor 10 Jahren zur ersten „Literarischen Woche“ geläutet wurde. Johann Tammen, Redakteur der „horen“, und Christa Fürst, Fachbereichsleiterin Kultur an der Volkshochschule hatten die Idee für das waghalsige Projekt.
Nach erster Hilfestellung durch die Bremer Volkshochschule konnte das Kind im dritten Jahr auf eigenen Beinen stehen. Tammen und Fürst gaben ihrer Reihe ein Programm: Literatur war nicht als Glasperlenspiel gefragt, sondern als „Stellungnahme zur politischen und sozialen Wirklichkeit“.
„Erkundungen zum Zustand unserer Republik“ (1987), „Literatur als Gedächtnis der Welt“ (1990), „Grenzüberschreitungen oder: Leben in Deutschland“ (1992) sind Titel, die das Themenspektrum der jährlich im Januar durchgeführten Literarischen Woche einkreisen. Die kleine Planungsgruppe hat es sorgfältig vermieden, sich auf mediokre, zweitklassige AutorInnen einzulassen. Von Anfang an hat sie auf Prominenz und Qualität gesetzt (von Erich Fried bis Cees Nooteboom), sie lud zur Wiederentdeckung (fast) vergessener AutorInnen ein (Georg Glaser, Hans Sahl) und stellte junge Talente vor, die sich inzwischen behauptet haben (Aysel Özakin, Uwe Kolbe, Herta Müller).
Zur Überraschung aller Pessimisten, die aus der Provinz nie etwas Neues erwarten, entwickelte sich die Literarische Woche zum herausragenden Ereignis im Kulturkalender der Stadt. Die Veranstaltungen im Jubiläumsjahr versprechen ein thematisch dichtes Programm, das mit einer Lesung aus Bölls Frühwerk „Der Engel schwieg“ einsetzt.
„Ich will die Gegenwart des Vergangenen. Den Apfel, in den ein Mädchen 1940 biß, oder den anderen, den ein anderes Mädchen 1935 pflückte. Nicht als Andenken, nicht als Vitrinenfetisch, nein, weil es da war, nicht mehr ist und nie mehr sein wird.“
Unter diesem Credo von Heinrich Böll versammeln sich heute und morgen vieldiskutierte AutorInnen und neueste Literatur, darunter W.G. Sebald (Die Ausgewanderten“), Robert Schindel (“Gebürtig“), F.C. Delius (“Himmelfahrt eines Staatsfeindes“) und Libuse Monikova (“Treibeis“). Fishtowns Literarische Woche hat sich aus dem Fahrwasser postmoderner Beliebigkeiten von Anfang an herausgehalten. Die AutorInnen reagieren darauf. Sie kommen gern, wenn sie gerufen werden. hans happel
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