piwik no script img

■ ScheibengerichtLe Mansuscrit du Puy

Ensemble Gilles Binchois

Virgin Classics/Veritas

Am Ostrand der Auvergne, inmitten der bewaldeten und zerklüfteten Berglandschaft des französichen Zentralmassivs, liegt die Stadt der zwei Felsen: Le Puy-en- Velay. Im Mittelalter war Le Puy ein bedeutender Ort der Volksfrömmigkeit, ein Wallfahrtsort, wo Massen von Pilgern sich einfanden. Seine Anziehungskraft beruht auf dem Deckstein einer der Felsnadeln, dem „Pierre des Fièvres“, zu deutsch: Fieberstein, dem krankheitsheilende Kräfte nachgesagt wurden. Darüber hinaus war die Stadt Sammlungsort für die Pilgerscharen auf dem Weg zum Apostelgrab von Santiago de Compostela in Nordspanien.

In der Wallfahrtskirche von Le Puy, einem mächtigen gotischen Kathedralenbau, ist vom 12. bis 16.Jahrhundert ein Manuskript entstanden, in dem die Kirchenmänner während des Gottesdienstes ihre Gesänge festhielten. In diesem speziellen Fall sind es die Lieder der Liturgie für ihr eigenes Fest, das Klerikerfest, das einmal im Jahr am Neujahrstag gefeiert wurde. Ähnlich der „regula“ der Klosterordnung trafen sich an diesem Tag die Kleriker von Le Puy alle drei Stunden im Chor ihrer Kirche zur „miditatio“ – zum gemeinsamen Singen auswendig gelernter Bibeltexte.

Diese Kirchenlieder geben in erhellender Weise die Entwicklungslinie geistlicher Gesänge von ihren Anfängen an wieder: zunächst die karge Askese der gregorianischen Einstimmigkeit des frühen Mittelalters, dann die Erweiterung um eine einfache zweite Stimme aus mündlicher Praxis in der Liedkunst des hohen Mittelalters, schließlich der mehrstimmige Gesang der Renaissance.

Diese frühen Zeugnisse europäischer Vokalkunst werden vom sechsköpfigen französischen Ensemble Gilles Binchois in einer fein ausbalancierten, fast „objektiven“ Gleichförmigkeit gesungen, wie sie für die geistlichen Gesänge im Zeitalter der Kathedralen üblich war. In der Ruhe der Linien, dem Ebenmaß der Harmonien, dem Wohlklang der tiefen Männerstimmen manifestierte sich die mönchische Suche nach Seelenfrieden in der Abkehr vom lärmenden Irrgarten der Welt.

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen