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Gewaltsame Fürsorge

■ Udo Sierck liest heute aus seinem Buch zur Geschichte der "Rehabiltiation" behinderter Menschen

liest heute aus seinem Buch zur Geschichte der »Rehabiltiation« behinderter Menschen

Woher kommt die sich in letzter Zeit offen artikulierte Gewalt gegenüber Behinderten? Eine Antwort mit historischem Hintergrund zeichnet Udo Sierck in seinem neuen Buch zur Rehabilitationspolitik nach - aus der Perspektive derjenigen, die diskriminiert und beruflich benachteiligt werden.

Am 6. April 1948, kurz nach Abschluß des Nürnberger Ärzteprozesses, der das furchtbare Ausmaß der „Medizin ohne Menschlichkeit“ dokumentierte, erscheint in der Hamburger Allgemeinen Zeitung folgende, im Ausschnitt zitierte Reportage: „Ein Kriegsversehrter, beide Füße ab, rutschte auf den Knien die Mönckebergstraße entlang. Abgemagert, in Lumpen, mit tiefliegenden, hohlen Augen, die Mütze vor sich hingestreckt, auf eine Spende harrend. Mir kommt dieser halbe Mensch vor, als sei er dazu verdammt, eine schwere Schuld ein Leben lang vor Gott auf den Knien abrutschen zu müssen. Können Sie das mit ansehen? Für diese Art von Menschen muß besondere Hilfe geleistet werden. Aber ich denke auch an die Menschen, die tagein, tagaus diesen Krüppel sehen müssen. Kann uns da noch geholfen werden? Müssen wir dieses Elend immer wieder sehen?“ Der Reporter empfindet das Verhalten des behinderten Bettlers als „asozial“ und schlägt „Beseitigung“ durch Arbeitstherapie vor. Nicht „Arbeit macht frei“, sondern „Arbeit ist die beste Medizin“!

Laut Sierck verdeutlicht dieser Bericht einige Motive der Behindertenfürsorge: Zunächst ihre vorwiegende Beschränkung auf die Kriegsopfer, die Anfang der 50er Jahre zwei Drittel der etwa 1,5 Millionen amtlich anerkannten körperbehinderten Menschen ausmachten. Dann jedoch vor allem die psychologische Situation und Umgangsweise, die sich auf die sogenannte Belastung und Verarbeitung der Behinderten bezog. Hier setzen viele Rehabilitationsvorstellungen an, die sich zum Ziel nehmen, die behinderte Person einer Beschäftigung zuzuführen, die sich Arbeitstherapie nennt und Menschen allein über „Leistungsfähigkeit“ definiert.

Diese Normierung wirkt sich nicht etwa nur ökonomisch, sondern auch moralisch aus. Diejenigen, die nicht arbeiten können, werden noch immer zum „soziales Nichts“ degradiert. Einige Rehabilitationskonzepte für die heute etwa sechs Millionen behinderten Menschen haben ihren Ursprung nicht erst in der Adenauer-Ära, und Siercks Schlußsatz ist als geschichtlich fundierte Kritik entlarvend aktuell: „Die Rehabilitanten sind keine eigenständig handelnden Personen, sondern behandelte Objekte – sie werden rehabilitiert.“ Christian Mürner

Heinrich-Heine-Buchhdlg., 19.30 Uhr

U. Sierck: „Arbeit ist die beste Medizin“, Konkret Lit. Verlag, 29 Mark

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