■ Die Bonner Politik züchtet einen neuen Sündenbock: Auftritt „Sozilanten“
Auf dem Spielplan des Bonner Theaters: der aktualisierte Publikumserfolg: „Die Schmarotzer – ein Gaunerstück in fünf Akten“. Hauptdarsteller dieses Mal: nicht Wirtschaftsasylanten (die sind mangels Masse bald eh von der Bühne verbannt), sondern Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger – treffender „Sozilanten“ genannt. Fütterten die „Scheinasylanten“ die heimische Großfamilie aus unseren Steuergeldern durch, so finanzieren die „Sozilanten“ damit ihr „Aussteigertum“ (Helmut Kohl) und machen unser Sozialsystem zum „Steinbruch egoistischer Interessen“ (O-Ton Kanzler).
Der Mann muß recht haben, denn nicht einmal die Ministerin, aus deren Haus bunte Broschüren mit dem Titel „Sozialhilfe, Ihr gutes Recht“ flattern, widerspricht. Statt dessen stimmt sie in den Mißbrauchs- Kanon ein und zieht den oftmals getesteten (und gescheiterten) Vorschlag aus der Mottenkiste: Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger. Wer nicht Schnee räumt oder Straße fegt, kriegt keinen Pfennig. Ein Vorschlag, der kein Konzept verrät, sondern bösartigen, populistischen Aktionismus. Die Ministerin müßte es besser wissen: Das Gros der SozialhilfeempfängerInnen sind alte Frauen, deren kümmerliche Rente nicht zum Leben ausreicht. Die zweite Gruppe sind alleinerziehende Frauen, die aus Mangel an Kinderbetreuungsplätzen aus dem Arbeitsprozeß gekippt wurden. Der dritten Gruppe – sofern sie nicht krank und arbeitsunfähig ist – mag die Ministerin ruhig eine Schneeschippe in die Hand drücken – im Sommer.
Die Vergangenheit hat längst gezeigt, daß der Verwaltungs- und Kontrollaufwand für einen solchen Arbeitsdienst immens ist. Der Überwachungsapparat, der nötig wäre, um SozialhilfeempfängerInnen oder Arbeitslosen ein paar lumpige Mark abzuknöpfen, wäre tausendmal lukrativer an anderer Stelle eingesetzt: bei der Steuerfahndung, die mangels Personal die Millionenbetrüger mit den weißen Westen nicht dingfest machen kann. Die Zwangsarbeit für SozialhilfeempfängerInnen spart kaum eine müde Mark. Die Tätigkeiten, die die „Sozilanten“ verrichten sollen, sind Beschäftigungstherapie, die kein Geld einbringt. Wären es produktive Arbeiten – die „Sozilanten“ wären bloße Jobklauer, die die Arbeitslosenstatistiken erhöhen.
Die Familienministerin müßte auch das wissen: in Ostdeutschland verzichtet nach ersten Schätzungen jeder zweite auf seine Sozialhilfe – aus Unwissenheit oder Scham, die durch die jüngsten Diffamierungen über „Sozialhilfeschmarotzer“ noch geschürt wird. Mit populistischen Giftspritzen gegen die Schwächsten der Schwachen hat die Politik schon in der Asyldebatte versucht, soziale Spannungen zu übertünchen. Unter den Folgen leiden wir noch heute. Vera Gaserow
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