piwik no script img

Stumme sollen mit Stummen sprechen lernen

■ Internes Papier der Schulverwaltung will Integration von Kindern mit Behinderung an Berliner Schulen einschränken

Berlin. „Mein Sohn durfte nach zehn Jahren Integration in Kindergarten und Grundschule nicht in die Gesamtschule und besucht seit zwei Jahren eine Sonderschule“, berichtet eine Mutter. Trotz der guten Ausstattung und einer Klasse mit sieben Schülern sei er sprachlich zurückgefallen. Durch seine gar nicht oder undeutlich und bruchstückhaft sprechenden Mitschüler erhalte er keine Anregung. „Er verlernt vieles, was er schon in der dritten Klasse konnte.“

Von den acht Schülern, die in der Sonderschulklasse gefördert werden sollen, kann keiner richtig sprechen. Sie artikulieren verwaschen, ihr Sprachschatz ist begrenzt. Die einzige Person, die sie sprechen hören, ist ihr Lehrer. „In einer integrierten Klasse erlebt das Kind ein Kommunikationsbad. Es wird angesprochen und hört andere Kinder reden. Kinder lernen viel voneinander“, sagt Rüdiger Stuckart vom Verein „Eltern für Integration“. Auch für nichtbehinderte Kinder sind die kleinen Klassenfrequenzen und differenzierteren Methoden von Vorteil. Auch lernen sie, andere als anders, nicht als minderwertig zu akzeptieren.

Immer mehr Eltern nehmen das Recht in Anspruch, ihr behindertes Kind auf eine allgemeine Grundschule zu schicken. So hatte es der rot-grüne Senat 1989 im Schulgesetz festgeschrieben. 6.000 Kinder besuchen Sonderschulen, 1.500 behinderte Kinder werden gemeinsam mit nichtbehinderten unterrichtet.

Der Senatsschulverwaltung sind das offensichtlich schon zu viele. Ein im Auftrag von Senator Klemann (CDU) erstelltes internes Papier mit Änderungsvorschlägen zum Paragraphen 10a liegt der GEW vor. Die Autoren befürchten die Auflösung der Sonderschulen und kritisieren die hohen Kosten der Integration. Sie schlagen vor, das Elternwahlrecht durch finanzielle und räumliche Vorbehalte einzuschränken. Nach einer Probezeit soll es eine „Korrekturmöglichkeit“ des Staates geben.

„Das Recht der Kinder, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, darf nicht von finanzpolitischen Erwägungen abhängen“, sagte GEW-Vorsitzender Erhard Laube gestern vor Journalisten. Die integrative Erziehung sei nicht so teuer wie in dem Papier angegeben. Im Bezirk Kreuzberg etwa benötige die integrative Erziehung zwar 550 Stellen zusätzlich, dafür werden aber 500 Stellen im Sonderschulbereich eingespart. „Eine humane Schule muß Behinderte in ihr Bildungskonzept miteinbeziehen. Der Ausbau gemeinsamer Erziehung ist das Gebot der Stunde.“

Die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Grüne sprach sich gegen die Bestrebungen der Schulverwaltung aus, „dieses Herzstück rot-grüner Bildungspolitik“ einzuschränken. „Vordringlich ist jetzt die Beratung und Weiterentwicklung auch im Ostteil der Stadt.“ Die Weiterführung der Integration in der Oberschule werde immer dringender und bedürfe der Hilfestellung. cor

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen