: „Die Schule versagt bei uns zur Zeit“
LehrerInnen sind unfähig, der täglichen rechten Gewalt zu begegnen, und nehmen sich einen einzelnen vor/ SchülerInnen reagieren zwiespältig ■ Von Bascha Mika
Englischstunde. Wände, abgeschabt und angegrabscht, Holztische mit rauher Vergangenheit, eine graufasrige Wandtafel. Dazwischen rund zwei Dutzend SchülerInnen. Hocken da auf zu kleinen Stühlen, kippeln ein bißchen, kramen im Kopf nach verlorenen Vokabeln. Es ist kurz vor der Jahreswende, sie sollen die „Highlights '92“ nennen. Die Stunde ist fast vorbei, den 15jährigen fällt nichts mehr ein.
Da meldet sich Thorsten*: „Das Gegenteil von einem Highlight“, sagt er, „war für mich, daß Deutschland die Fußballeuropameisterschaft verloren hat.“ „Och, wissen Sie“, antwortet Lehrerin Ehlers, „das war für mich aber durchaus ein Highlight.“ Thorsten starrt sie an, wendet sich zu seinem Nachbarn und murmelt halblaut: „Keine richtige Deutsche. Sofort abknallen!“ Die Klasse hat es gehört, Sibylle Ehlers auch. Schweigen im Raum. Die Jungen grinsen. Es klingelt zur Pause. Die Lehrerin schnappt ihre Tasche und hastet nach draußen. „Mensch, die heult ja“, bemerkt ein Mädchen.
Das Bertolt-Brecht-Gymnasium. Eine normale Kleinstadtoberschule im Land Brandenburg, eine typische Lehranstalt in Nach- Wendezeiten. Früher wurden auf der Eliteschule – einer EOS mit 300 SchülerInnen und 28 LehrerInnen – rote Kader geschmiedet. Heute hat sich die Zahl der Lehrenden knapp verdoppelt, der Lernenden fast verdreifacht. Geschmiedet wird nicht mehr.
Pause. Karin und Petra lehnen in ihrer Klasse am Fenster. „Schule versagt bei uns zur Zeit“, brummelt Karin, ein ehemaliger FDJ- Sekretär und guckt so resigniert aus ihrer Nickelbrille, als würde sie draußen alles Elend der Welt sehen. „Wir haben zu viele Lehrer, die nur den Mund halten und ihren Job machen.“ „Seit alle aufs Gymnasium dürfen, ist das Niveau total gesunken“, jammert Petra, die Schulsprecherin. „Diese Bummelanten, diese Schulschwänzer“, schimpft sie vor sich hin, „wer hierherkommt, muß wissen, was er will, sonst behindert er nur die anderen.“
Die 17jährige Karin hat andere Probleme. Immer wieder klebten an Türen und Wänden „Ausländer raus“-Parolen, erzählt sie. Schon mehrmals hätten morgens Flugblätter von der Nationalistischen Front auf dem Schulhof gelegen – sogar, als diese bereits verboten war. Vor allem die Jungs aus den 8. und 9. Klassen würden ständig rassistische Sprüche klopfen. „Viele denken“, regt sich das Mädchen auf und kriecht mit den Händen in die Ärmel ihres großen Pullovers, „rechte Gewalt heißt nur, daß jemand zusammengeschlagen wird. Dabei fängt es viel früher an.“
Ende September letzten Jahres brannte das KZ-Sachsenhausen. In der Schule hing ein Aufruf zur Demonstration gegen Antisemitismus und Fremdenhaß. Nicht lange, und das Plakat war mit Hakenkreuzen beschmiert. Doch kein Erzieher forderte eine Diskussion. Nur der Aushang wurde entfernt.
Als in Rostock-Lichtenhagen die dumpf-deutsche Wut tobte, redeten die SchülerInnen tagelang über nichts anderes. Doch selbst im Fach „Politische Bildung“ war den Pädagogen das Thema „Wohngeld“ offenbar wichtiger.
Sibylle Ehlers stolpert ins Lehrerzimmer. Ihre Augen triefen. Irritiert mustern die Anwesenden die jüngste Kollegin. Erst als sie gedrängt wird, berichtet die Englischlehrerin vom Vorfall in der Klasse 9a. „Aber liebe Frau Ehlers“, meint ein Kollege jovial, „seien Sie doch nicht so empfindlich.“ „Wie kann man bei so was nur rausrennen, statt es zu ignorieren“, murrt jemand in seine Kaffeetasse. Der Lehrkörper wendet sich ab und schweigt.
Und hätte das Ganze gerne vergessen. Doch Kollegin Homberg, als „Querulantin“ bekannt, schneit ins Lehrerzimmer, hört, was los ist, und poltert: So was dürfe man auf keinen Fall durchgehen lassen, der Direktor müsse informiert, Thorsten aus der Klasse geholt werden. „Es mußte endlich mal was passieren“, sagt sie später.
Die Eltern des Jungen werden verständigt. Das Brecht-Gymnasium hat seinen Skandal.
Freistunde. Thomas, Klassensprecher in der 9b, steht in einem Pulk Jungs draußen im Hof. Er ist 15, rothaarig und guckt pfiffig aus der Wäsche. „Es gibt bei uns zwei Gruppen von Lehrern“, analysiert das schmale Bürschchen, „die einen, die überreagieren und für die alle gleich Rechtsradikale sind, und die anderen, die weggucken.“
Von der zweiten Gruppe gibt es entschieden mehr. Selbst Schulleiter Schröder, der rührig demokratische Spielregeln probt, läuft gegen die Wand. Früher betrieben die Lehrer die Produktion der „allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“. Heute fürchten sie, durch jede Meinung in Ideologieverdacht zu geraten, üben sich in pädagogischer Abstinenz und wollen „nur“ Fachlehrer sein.
Lehrerzimmer. Eine Kollegin der Sekundarstufe I bereitet die nächste Stunde vor. „In den neuen Schulbüchern gibt es noch nicht mal geordnete Merksätze, nach denen man sich richten kann“, ärgert sie sich. Immer häufiger greift sie auf DDR-Bücher zurück. Gleichzeitig findet sie es „unmöglich, daß 60 Prozent des Volkes Abitur machen wollen“.
Der Pädagogin fehlen „die Forderungen und die straffe Hand“. Wie viele KollegInnen zieht sie sich zurück und hinterläßt pädagogisches Brachland.
Leise Aggression, lautlose Furcht und eine unterschwellige Bedrohung zieht durch die trüben Gänge der Backsteinschule.
„Gewalt mit Worten, auch gegen Lehrer, ist doch normal“, erzählen bereits die 13jährigen, die durch das Schulgebäude toben, „doch die meisten Lehrer wollen es gar nicht hören.“ In einer der zwölften Klassen werden Kassetten mit Frontberichten aus dem Zweiten Weltkrieg gehört – die Pädagogen stellen sich taub. In der Bibliothek schräg gegenüber der Schule ist Hitlers „Mein Kampf“ ständig verliehen – das Kollegium will davon nichts wissen.
Doch jetzt gibt es den „Fall Thorsten“. Gerüchte schwirren durch die Klassenräume. Thorsten, der nie aufgefallen war – schon gar nicht als Rechter –, ist vom Unterricht suspendiert. Plötzlich reagiert auch das Kollegium: Die Autorität sei in Gefahr, man brauche ein Exempel. „Wenn der nicht von der Schule fliegt, wer dann“, ist die Losung im Lehrerzimmer.
Turnstunde. Uwe, die Trainingshose unter den Arm geklemmt, läuft Richtung Sporthalle. Schmal ist er, schlaksig, knapp 16 Jahre. Seine Kumpels nennen ihn spöttisch den „Führer“. Das ist ihm sichtlich unangenehm. Er zappelt mit den langen Armen, sucht mit den Augen den Boden ab. „Hier ist es im Moment selbstmörderisch, seine Meinung zu sagen.“ Dann würde doch wie bei Thorsten gleich mit Rausschmiß gedroht. Selbst wenn man rechts wäre, meint der blasse Junge verdruckst, wäre man ganz schön „doof“, das zu sagen. Schon wegen seiner Doc-Martens-Schuhe würden ihn einige Lehrer schief angucken – aber kein Wort verlieren, sondern den Klassenlehrer gegen ihn aufhetzen. „Was soll man machen, wenn sie nicht mit einem reden. Lieber so tun, als wäre man ihrer Meinung. Wenn man auf der Kippe steht, kann man sich ein schlechtes Verhältnis zu ihnen nicht leisten.“
Für die Kids gibt es kein Strammstehen mehr, wenn der Lehrer reinkommt, kein Drill und kein Gequatsche vom Sozialismus. Die rote Vergangenheit vieler Lehrer sehen sie gelassen. „Wer früher schon mit dem Arsch an der Wand langgeschrabbt ist, tut es auch heute“, bemerken sie lapidar, „und wer damals o.k. war, ist es auch heute.“
Fast fühlen sie sich mit den Lehrern in einem Boot: die alten Strukturen gelten nicht mehr, die neuen hat noch keiner richtig drauf. Für die Kids gibt es rundrum nichts als Luft und den freien Fall. Ausprobieren, meist allein, schlecht und recht. „Die Leine ist los“, sinniert ein 16jähriger melancholisch, „aber weil wir nicht wissen, wohin wir laufen sollen, bleiben wir stehen.“
Selbst ihre demokratischen Rechte beäugen die Jugendlichen mißtrauisch, lernen die Spielregeln nur mühsam, ein wenig ungläubig, ein wenig ängstlich. Am Brecht- Gymnasium sollten 15 Funktionen in Schülergremien besetzt werden, doch nur 10 Personen stellten sich zur Wahl.
Schulkonferenz. Sie tagt zum „Fall Thorsten“. Die Konferenz ist zu gleichen Teilen mit Pädagogen, Eltern und Schülern besetzt. Thorstens Eltern sind eingeladen. Sie verstehen die Welt nicht mehr und ihr Kind erst recht nicht. „Ich schäme mich für meinen Sohn“, äußert der Vater. Thorsten sitzt als eingesacktes Häufchen dabei.
Die MitschülerInnen der anderen Klassen versuchen, Genaueres über den Vorfall zu erfahren. Doch die meisten Lehrer sagen lange nichts, sagen die Hälfte oder stellen sich hin und sagen: „Ich weiß, was passiert ist, aber ich sage es Ihnen nicht.“
Als alles rauskommt, spaltet sich die Schule in zwei Gruppen. Vor allem die Jüngeren aus den 8. und 9. Klassen – die die Älteren gern als „nachwachsende rechte Brut“ bezeichnen – sind sauer auf die Ehlers. Sie hätte sofort mit Thorsten sprechen müssen, statt rauszurennen und das Ganze an die große Glocke zu hängen.
„Ich hab' mich ja auch immer gut mit ihm verstanden“, gibt Englischlehrerin Ehlers zu. „Vielleicht war der Schock deshalb so groß.“ Trotz der „Schwäche“, die ihr die KollegInnen vorwerfen, ist sie heilfroh, daß nicht wieder alles unter den Teppich gekehrt wurde. Doch im Kollegium „verstummen die Gespräche, wenn ich reinkomm'“.
Auch die Jugendlichen ab der 10. Klasse aufwärts sind eher erleichtert. „Endlich“, seufzt Karin in ihrem zu großen Pullover, „wird so etwas diskutiert und nicht einfach vertuscht.“
Thomas, Sprecher der unteren Klassen in der Schulkonferenz, findet das ganze Theater überzogen. „Das war ein ganz normaler Schülerscherz. Unpassend, zugegeben. Aber es war nur verbal. Frau Ehlers kennt Thorsten. Sie weiß, daß er es nicht so gemeint hat. Niemand war richtig bedroht. Jetzt halten alle den Jungen für einen Rassisten.“
Thorsten hat vom Direktor einen Verweis bekommen.
Freistunde. Drei Jungs aus der 11. Klasse sitzen mit Schulsprecherin Petra herum. Der „Fall Thorsten“ soll zu einem Fall für die ganze Schule werden. Sie bereiten die erste Schülervollversammlung vor. Thema: „Gewalt an der Schule“. „Direkt nach der Wende“, findet Axel, „war das Klima hier so munter.“ Hinter ihm hängt ein Plakat: „Verträumt nicht euer Leben, sondern erlebt eure Träume.“
*Alle Namen, einschließlich der Bezeichnung der Schule, wurden von der Redaktion geändert
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