Else Lasker-Schülers himmlische Felswände

■ Wo das Stadtbild noch zu wünschen läßt (Folge 21): Brandmauern in Berlin/ Projektionsflächen der Phantasie und Relikte baupolizeilicher Vergangenheit

Der Blick in den Himmel über Berlin führt an Brandwänden entlang. Die kahlen, hohen Flächen in brüchigem Grau, dunklem Rot oder Braun bilden einen scharfen Kontrast zu den Wolken, die die Konturen nur mehr hart und kalt erscheinen lassen.

Die Brandmauer ist vor die Hauswand geklebt. Ihr Profil strebt immer wie ein gerader Strich in die Höhe, knickt ab und überspringt ein- oder zweimal die Schäfte heraustretender Schornsteine. Dann knickt die Linie erneut ab und verläuft kerzengerade zurück in die Erde. In der unverputzten Wand stecken Eisenklammern, die die Steine zusammenhalten. Beinahe alle Wände sind sich gleich, nur manchmal ist die Fläche aufgeschlitzt. Die Mieter und Mieterinnen dahinter haben sich Lichtlöcher gegraben.

Brandmauern gibt es nur in Berlin. Sie sind typische Relikte aus der baupolizeilichen Vergangenheit der Stadt. Die Spezialität Brandmauer wurde im 19. Jahrhundert per Verordnung zwischen die engen Mietskasernen gesteckt, um Feuersbrünste besser kontrollieren zu können. Aus dem leeren Hinterhof ging der Blick dann auf die kahle Wand gegenüber. Der Dichterin Else Lasker-Schüler, die in dunklen Mietwohnungen hausen mußte, erschienen sie als „himmlische Felswände“ und riesige Gesetzestafeln mit großen Flächen zum Schreiben. Die Tafelwand vor dem Fenster „ersehnt meine Dichtung“, schrieb sie im Jahre 1932.

Die Wand wirkte als Projektionsfläche für Ausflüge der Phantasie und Einbildungskraft. Die Höhe zu überwinden war nicht schwer, denn die Steingebirge waren keine Gefängnismauern. Heute stehen die Wände wie hohe Wächter und Mahner für die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Die mächtigen Steinflächen, auf die sich die Schatten der neuen Häuser legen, bilden nun in Höfen, Ecken und „entkernten“ Quartieren wunderbare Rückansichten wiederhergestellter Straßenzüge und Blöcke.

Unter ihrem Schutz haben sich Gärten und Spielplätze, Treppen und Bauten angesiedelt. Sie restlos wieder an neue Gebäude anzudocken, verstieße beinahe schon gegen den Wert und Wandel, den sie repräsentieren.

Für den Maler Werner Heldt waren die Brandwände Fragmente des Nachkriegs-Berlins und zugleich abstrakte Flächen zur Darstellung einer Leere. Für den Regisseur Wim Wenders sind sie Himmelsleitern oder nur unbespielte Leinwände, die das Auge nach oben ziehen, um dann von Engeln zu träumen. Für das Stadtbild aber sind die geometrischen Flächen unersetzliche Stilleben. Rolf Lautenschläger