■ Lichterketten gibt es am 30.1. überall in Deutschland – Zum Entstehen einer Zivilreligion
: Kerzen über Berlin

Wie kein anderes Thema entzweit derzeit die Debatte über Sinn, Form und Funktion der Lichterketten all jene, die der von CDU/CSU/SPD/FDP exekutierten Antiflüchtlingspolitik distanziert gegenüberstehen. Hinweise darauf, daß hinter dem matten Schein der Kerzen gewaltfrei und gesetzesförmig eine sozialpatriotische Festung Deutschland entsteht, werden schnell mit dem Vorwurf der Arroganz beantwortet. Lobeshymnen auf einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch von unten rufen hingegen die Skepsis all jener hervor, die nicht übersehen wollen, daß die Lichterketten auch und gerade von den politischen Kräften – von oben – gestützt werden, die mit ihrer Asylkampagne die Menschenjagd vorbereitet haben.

Immerhin scheint folgendes unstrittig zu sein: die Lichterketten haben das zivilisatorische Minimum beglaubigt, daß Menschen nicht einfach totgeschlagen werden dürfen, weil sie fremd wirken. Die Lichterketten haben zu einem landesweiten politischen Klimaumschwung geführt, der es als genierlich erscheinen läßt, sich offen zu rechtsextremistischen Parteien und ihren Parolen zu bekennen. Die Lichterketten haben den durch die Pogrome von Rostock Hünxe und Mölln im Ausland beschädigten Ruf der Bundesrepublik gerettet – das andere, das „bessere“ Deutschland ist zu Millionen gegen offenen Rassismus auf die Straße gegangen.

Ob die Lichterketten ursächlich etwas mit dem Rückgang der Gewalttaten zu tun haben, mit dem langsamen Ausschwingen der Kriminalitätskurve in diesem Bereich, weiß im Moment niemand. Umgekehrt ließe sich auch sagen: Daß trotz all der Lichterketten immer noch so viel Anschläge geschehen, ist das wirklich Beunruhigende in diesem Zusammenhang.

Zudem weiß niemand, ob und in welchem Ausmaß die Kerzen und Lampions tragenden Demonstranten tatsächlich für ein anderes Verhältnis zu Flüchtlingen und Einwanderern eintreten – vielleicht sind sie ja wirklich nur gegen Gewalt und beglaubigen lediglich mit Symbolen aus der Katakombe das neuzeitliche Gewaltmonopol. Das wäre nicht nichts, aber politisch doch zu wenig.

Jenseits dieser im engeren Sinn politischen Fragen werden wir jedoch staunenen Auges Zeugen der Geburt einer neuen Zivilreligion, einer mit religiösen und symbolischen Mitteln bekräftigten, kollektiven und ganzheitlichen Sicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und die historische Vergangenheit Deutschlands. Diese Religion kommt ganz ohne Gott, aber nicht ohne Ergriffenheit aus, sie appelliert kurzfristig an die Gemeinschaft, ohne die Menschen einander wirklich näherzubringen, und stiftet ein neues Weltbild, ohne die Welt zu verstehen. Nationalsozialismus und aktueller Rassismus (die hier keineswegs einander gleichgesetzt werden sollen) schrumpfen so zu falsch inszenierten ästhetischen Ritualen. Dieser Antirassismus ästhetisiert die Politik – auch die eigene.

Deutlichen Ausdruck finden diese Paradoxien der antirassistischen Zivilreligion in dem für morgen in Berlin geplanten Ritual einer symbolischen Gegenveranstaltung zu Hitlers Machtergreifungungsfeier, dem Durchmarsch der mit Fackeln bewehrten SA-Horden durchs Brandenburger Tor am 30.1.1933. Künstler und Intellektuelle wie Otto Sander oder Peter Zadek unterstützen das antirassistische Gesamtkunstwerk, in dem die Erinnerung an die Fackeln durch die unscheinbare Spur der Kerzen, durch die Fäden der Lichter, in denen die Masse der Demonstranten zum Ornament wird, getilgt, widerlegt und widerrufen werden soll.

Das Brandenburger Tor, der Dom, die Siegessäule, alles, was jemals baulich für das herrschaftliche Berlin stand – es wird nicht (nicht einmal symbolisch) gestürzt, sondern durch das Ein- und Ausschalten von Licht, von Scheinwerfern und von Strahlern, in das einbezogen, was die Veranstalter wohl als „Mahnbild“ bezeichnet sehen möchten. Doch das Inszenieren kollektiver Ergriffenheit, das Verwenden von Menschen als Material in einem politisch-ästhetischen Gesamtkunstwerk, das Spiel mit Feuer und Licht – all dies unterliegt einer eigenen Dialektik.

Dieser Dialektik des guten Willens gelingt es aber nicht, sich der Bannkraft des Feuers, die die deutsche Wiedervereinigung von Anfang an begleitet hatte, zu entziehen. Als nach der Öffnung der Mauer Beethovens Neunte Symphonie öffentlich aufgeführt wurde, deren Chorteil bekanntlich mit „Freude, schöner Götterfunken...“ anhebt, hatte der Chor auch jene Passage zu singen, in der es u.a. in bezug auf die zur Freude Unfähigen heißt: „Und wer's nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund...“ Drei Jahre später hatten die Opfer der Pogrome, die von den Funken der nicht mehr ganz so strahlenden nationalen Freude in Angst, Schrecken oder gar den Tod getrieben wurden, allen Anlaß zu weinen.

Doch die archetypischen Bilder von Funke und Lohe, von Fackel und Kerze, von Feuer und Licht, sie wollen nicht weichen. Die reinigende Flamme, das wahrende, schützende und schutzbedürftige Flämmchen der Kerze, das die Nacht erhellt, der Himmel über Berlin, dessen Dunkelheit zur Disposition steht, und die endlosen Massen, die den Lichtern folgen – es scheint, als sei Deutschland dazu verdammt, im Bann von Feuer und Licht zu bleiben.

1933 die Fackeln, 1993 die Kerzen, 1935/36 Albert Speers Lichtdome, 1993 das Ausschalten der Beleuchtungen der Wahrzeichen – an die Stelle triumphierenden Lichts treten heute seine unscheinbareren Verwandten, aber auch sie blenden.

Die Autoren des Berliner Spektakels, initiiert vom Kabarettisten Martin Buchholz, verbleiben willentlich und wissentlich in jenem Symbolraum, den die Nationalsozialisten aufgespannt haben, in einem Symbolraum, dessen totalitärer Kraft nicht dadurch zu entrinnen ist, daß man die einzelnen Symbole umcodiert. Ohne den Umstand zu verkennen, daß politische Haltungen auch der symbolischen und öffentlichen Artikulation bedürfen, sei darauf hingewiesen, daß zumal das Verhältnis zu einer staatsbürgerlich verantworteten Geschichte zunächst und vor allem eines nüchternen, genauen, prüfenden, eben taghellen Blicks bedarf.

Wer sich als ergriffenes Glied innerhalb einer Lichterkette weiß, weiß darum noch lange nicht, was und warum am 30. Januar 1933 geschah. Wer sich in dem Gefühl wähnt, ähnlich wie die ersten Christen in den Katakomben für die Wahrheit zu zeugen, verkennt, daß er oder sie überhaupt nicht und in keiner Weise selbst gefährdet ist. Sie oder er übersehen zudem, daß erhebliche Gefahren für verfolgte und gefährdete Menschen keineswegs nur von den Brandsätzen der jugendlichen Feuerteufel ausgehen, sondern von den im kalten Neonlicht verfaßten und beratenen Gesetzesvorlagen zur Änderung des Asylrechts, von den Scheinwerfern des Bundesgrenzschutzes an der Oder und dem Strahlen im Gesicht der Politiker nach dem parteiübergreifenden Asylkompromiß.

Das religiöse Licht in der Nacht blendet entweder oder läßt blinzeln, die durchs Licht, hier durch Kerzen beglaubigte Weltsicht ist immer mythologisch, verdrängt die Geschichte ebenso wie die gegenwärtige Wirklichkeit und bleibt bei alldem so unbestimmt, daß sich diesmal niemand davonstehlen muß.

Das Licht der Aufklärung hingegen ist allemal das des Tages, in dessen klaren Konturen das Auge die Zeugnisse und Schriften von Gegenwart und Vergangenheit selbst zu lesen vermag. Micha Brumlik

Publizist und Professor für Pädagogik, Frankfurt und Heidelberg; gehört zum Autorenkreis der Zeitschrift „Babylon“, einer Publikation für Fragen des deutschen Judentums.