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„Lenin geht, Pu kommt“

■ Pu der Bär und der KBW, die Philosophie, der Broadway sowie ein niederdeutsches Desiderat / Der Weg-des-Pu

Konrektor Christian Marzahn war in offizieller Mission: Es galt, am „Eichwede-Institut“ für Osteuropa-Forschung einen russischen Wissenschaftler zu begrüßen. Als die freundlichen Reden vorüber waren, stellte Marzahn seine Frage: Gibt es in Rußland vielleicht eine Ausgabe des bekannten ... — da zog der Gast aus einer Plastiktasche ein Buch, das bei Marzahn augenblicklich heftiges Entzücken auslöste. Es handelte sich um eine wunderschön illustrierte russische Ausgabe von „Pu der Bär“, voller kyrillischer Zeichen. Vorangestellt war eine Widmung: „Lenin geht, Pu kommt.“

Das war 1991 und kein Zufall, sondern eingefädelt. Christian Marzahn, Professor für Sozialpädagogik an der Uni Bremen, ist seit Jahren unter Kollegen bekannt dafür, daß er dem Bären Pu verfallen ist. Und zwar weitestgehend. Nicht nur, daß er bei jedem Auslandsaufenthalt mit einem Auge die Auslagen der Buchhändler nach neuen Ausgaben des Kinder-Klassikers durchsucht — Marzahn studiert den Geist der Pu-Bücher, atmet ihn und lebt danach.

Christian Marzahn hat nicht die klassische Pu-Sozialisation hinter sich, „Pu der Bär“ mit drei Jahren, „Pu baut ein Haus“ mit vier, aufwachsen mit Pu, bis man 10 oder 12 ist; dann will man diesen Kinderkram nicht mehr. Marzahn ist, wie überraschend viele Erwachsene, ein Seiteneinsteiger. Sein Weg zu Pu war allerdings der denkbar skurrilste.

„Winnie Ille Pu“ ist der Titel der lateinischen Übersetzung des Buches, in Latinum conversus auctore Alexandro Lenardo (Stuttgardiae: Sumptibus Henrici Goverts, MCMLXII). Für den begeisterten Lateinstudenten Marzahn, der in seiner Kindheit nicht mit Bären, sondern mit „Liesel“ gespielt hatte, kam die Entdeckung dieses Buches einer Erleuchtung gleich. Dem Hang zum philosophischen Gemurmel und Gesumm des in England erfundenen „Winnie-the-Pooh“ kommt die lateinische Sprache entgegen, seiner naiven Feierlichkeit, seiner Verschrobenheit. Wie großartig, wenn Pu seine weitreichenden Äußerungen in der Sprache Ciceros macht: „De apibus semper dubitandum est“ — Über Bienen kann man nie sicher sein. Und wie angemessen erscheint die Begrüßung der Steifftiere, wenn sie „Salve, Porcellus!“ rufen.

Der belgische Arzt und Übersetzer Alexander Lenard hatte mehr als übersetzt: Er hatte den Ur-Text mit zahllosen Anspielungen auf Klassiker-Stellen gewürzt, was humanistisch Trainierte in zusätzliches Entzücken

WINNIE ILLE PU

A.A.Milnei WINNIE ILLE PU — Liber celeberrimus omnibus fere pueris puellisque notus nunc primum de anglico sermone in Latinum conversus auctore Alexandro Lenardo

versetzt. Lenard führte dabei eigentlich nur fort, was Milne, der Autor der Pu-Bücher, ohnehin angelegt hatte: „Pu der Bär“ besteht aus vielen Büchern.

Die kleinen Erstkonsumenten erfahren Pu als Bären, der aufregende Abenteuer mit so gefährlichen Tieren wie dem Heffalump besteht. Da gibt es nichts zu lachen, das ist eine ernste Geschichte. Ist man aber mit Pu groß und vielleicht sogar erwachsen geworden, erschließen sich einem nach und nach weitere Ebenen — man entdeckt die Schönheit der Formulierungen, die Klarheit der Charaktere eines I-Ah, eines Ferkels oder eines Tiegers. Doppel-, Hinter- und Vielsinne tun sich auf, die Figuren werden zu sozialen Prototypen, die sich mit Sophismus und dialektischen Wendungen aus den Fallen des Zusammenlebens herausziehen. Auf einmal gibt es fürchterlich viel zu lachen und zu glucksen bei der Lektüre allein oder zu zweit.

Christian Marzahn schätzt vor allem die paradigmatischen Qualitäten an Pu und seinen Freunden. „Ich überstehe kein Gremium an der Uni, ohne eingeteilt zu haben: wo sitzt I-Ah, der immer alles runtermacht, wo sitzt der ungestüme Tieger, der voller Action hereingestürzt kommt. Wer ist Piglet, der kleine mutige Feigling, wer Rabbit, der informatorische Wichtigtuer mit den ewigen Neuigkeiten. Wir leben mitten in der Pu-Welt.“ Nur

Pus, findet der Professor, Pus gibt es selten an der Uni.

Wer ist Pu? Pu ist Poet und Philosoph und Abenteurer. Aber nicht er stürzt sich hinein — die Abenteuer kommen zu ihm, während er summend durch den Hundertsechzig-Morgenwald streift. Pu tut auch nichts, um eine Lösung herbeizuführen — die Auflösung kommt von außen. Pu ist der Gegenentwurf zum westlichen Macher, er ist, so Marzahn, der „Tao-Typ“. Japaner würden den Jüngern Pus den Pu-Do, den Weg des Pu empfehlen. Und wie in den östlichen Philosophien kann man's nicht zwingen, wie Pu zu sein, aber: „Man kann sich um Pus Haltung bemühen.“ (Marzahn)

Ganz eigentlich sind auch die Pu-Bücher eher zu Marzahn gekommen als umgekehrt. Neulich in Sevilla: Christian Marzahn schlendert durch die Gassen, vorbei an einem Papierladen. Das Buch muß gerufen und gewunken haben: Unter einer ein Zentimeter dicken Staubschicht verbarg sich „El Orsito Winnie Pu y el arbol de la miel“ (Das Bärchen Winnie-der-Pu und der Honigbaum). Schon war der Pu- Sucher im Laden und rang um Beherrschung, seine Gier vor dem Händler zu verbergen. Der wiederum forderte 300 Pesetas und pachte das Buch eilig ein, damit der Kunde es sich nicht anders überlegte.

Wenn es überhaupt so etwas gab wie eine Pu-Krise bei Christian Marzahn, dann waren es die zehn Jahre, die er für den KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) arbeitete. Es war dies die Zeit, da er sogar mit seinem geliebten Thomas Mann brach, den er ins oberste Regal verbannte. Pu hingegen blieb in Reichweite, allerdings „um den Preis einer Schizzophrenie“. Die „Episode“ (Marzahn) ging vorüber, Marx wanderte nach oben im Regal, die Schizzophrenie hatte ein Ende, und Pu war immer noch da!

Des Brommle da obe hat ebbes zum sagen

Dem Sammler Marzahn fehlen noch etliche der in zwanzig Sprachen übersetzten Ausgaben. Ein Systematiker ist er eben nicht. Allerdings, und der Gedanke beschäftigt ihn schon länger, gibt es „ein großes Desiderat“ in der Pu- Rezeption: Es gibt keine niederdeutsche Übersetzung. „Das müßte fabelhaft sein,“ glaubt er, die Nähe zum Englischen, die Mischung aus „very little brain“ und „sophisticated“ — da wäre Pu „gut nachzubauen“, viel besser als im Hochdeutschen. An einer Übersetzung ins Schwäbische hat sich der geborene Stuttgarter schon einmal versucht (Des brommle do obe, des hat ebbes zum sagen...). Schwierig, schwierig! Besser gelang vor Jahren ein anderer Zugang, eine „Polyglotte Pu-Lese-Symphonie“ mit verteilten Rollen in allen denkbaren Sprachen. Das war ein Riesenspaß unter Freunden.

Pu (italienisch: l'orsetto; französisch: l'ourson) ist natürlich längst ein Mythos. Umgeben von vielen Fragen. Eine davon, die Marzahn beschäftigt, ist: Warum um alles in der Welt kam Pu nie an den Broadway? Die Songs sind alle schon da, die Bekanntheit der Figuren verspräche Weltgeltung, das Stück ist eine einzige poetische Anrührung, und man sieht das Bühnenbild förmlich vor Augen. „Man müßte einen Prokofieff finden für Pu! Ein Bernstein hätte sich erbarmen müssen!“ Sagt Christian Marzahn und weiß doch auch um das zentrale Problem — die ganze Welt ist voller Pu-Regisseure, alle wissen, wie ihr Pu auszusehen hätte. Das wäre ein fast aussichtsloses Gefecht mit globalen Enttäuschungen gewesen. Das gültige Medium für Pu ist das Buch. Der gültige Film von Pu läuft in unserem Kopf (und in der Welt).

Pu zu Ferkel: „Komm, wir gehen los und besuchen alle. Denn wenn man meilenweit durch den Wind geht und dann plötzlich bei jemandem hereinkommt, und der, den man besucht, sagt: 'Hallo, Pu, du kommst gerade rechtzeitig für einen kleinen Mundvoll', dann nenne ich das einen angenehmen Tag.“

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