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Verboten, bukolisch, geil

Friedrich Kröhnkes Roman einer päderastischen Ost-West-Liebe  ■ Von Tilman Krause

„Was war an der DDR so sexy, so geil, so irre?“, fragte kürzlich Henryk M. Broder und erteilte die Antwort gleich selbst: eigentlich nichts. Aber das Gebiet zwischen Elbe und Oder eignete sich herrlich für Projektionen. Als hätte er sich dieses Diktum zu eigen gemacht, erhebt auch Friedrich Kröhnke in seinem Roman „P 14“ das Ost-Berlin vor der Wende zum lieblichen Ort, wo die Liebe blüht, und zwar eine sehr spezielle, meist zum Scheitern verurteilte: die Päderastie. „Der locus amoenus ist oftmals ein Hain, und hier und heute heißt er Friedrichshain“, steckt Kröhnke den literaturgeschichtlichen Hintergrund seiner Romanze ab, die er im dezenten, aber unübersehbaren Rückgriff auf das Schatzkästlein abendländischer Stilmittel und Topoi poetisiert. Ausgerechnet der trostlosen DDR widerfährt eine ungeahnte Ehre; sie wird zur erotischen Landschaft. In dieser vermeintlichen Idylle findet der Autor zwei Dinge, die für die Botschaft seines Buchs konstitutiv werden: Den Zauber des Vorzivilisatorischen und einen entsprechenden Protagonisten, den archetypischen Berliner Proletarierjungen.

Kröhnkes vierzehnjähriger David aus „P14“ ist ein zeitgenössischer Verwandter von Emil und seinen Detektiven. Der Verfasser, der bereits in einer früheren Erzählung mit dem Titel „Grundeis“ bewußt an das Personal von Erich Kästners berühmtem Kinderbuch anknüpfte, huldigt erneut einem Mythos, den nicht nur Pädophile in Berlin ansiedeln. Auch Christopher Isherwood, Stephen Spender oder Julian Green bewunderten einst die Naturburschen der Reichshauptstadt, die in ihrem ruppigen Charme wiederum von ferne an Richard Wagners jugendliche Helden erinnerten, von denen sich müde Vertreter einer Spätzeit-Kultur Erfrischung versprachen.

Es ist sicher kein Zufall, daß die „Parole Emil“ in den frühen dreißiger Jahren literaturfähig wurde und in die Werke internationaler, aber vor allem deutscher Erzähler eindrang. Was man damals die „nationale Wiedergeburt“ der Deutschen nannte, lenkte das Augenmerk auf sie. Ihr sozialer Standort reichte von den halbkriminellen Stromern und Strichern bei Hans Siemsen über Kästners Kleinbürgersöhne bis zu Schenzingers „Hitlerjunge Quex“ samt seinen Kumpels aus den kommunistischen Jugendverbänden oder zu Hans Heinz Ewers' verquerem Buch über Horst Wessel. All diese Protagonisten standen für das Integre und Unverbrauchte, mit dem sich eine bessere Zunkunft bauen ließ.

Diese Tradition nimmt Kröhnke auf – und zwar mit einer ganz bestimmten Absicht. Bewußt isoliert er den erotischen Aspekt dieser Tradition, denn es geht ihm um die Wiedergewinnung der unverfälschten erotischen Gefühle. Dafür steht sein David aus Hohenschönhausen. Bei ihm findet das Alter ego des Romanciers, der Dichter Kauz, jene emotionale Unverdorbenheit, die ihn für unverbindliche Paarungen sowie eine zum Fleischmarkt verkommene Permissivität im Westen entschädigen soll und eine Utopie aufscheinen läßt von der wiedergewonnenen erotischen Unschuld.

Ohne den skizzierten Hintergrund ist Kröhnkes literarisch anspielungsreicher und doch auch in seiner Berliner Topographie ungemein anschaulicher Erziehungsroman kaum verständlich. Der Autor reagiert mit seinem Text aber nicht nur auf die Krise, in die die homosexuelle Liebe geraten ist. „Die Institutionen der Liebe befinden sich in offener Auflösung, weil die sozialen und kulturellen Zwänge verschwinden“, schreibt auch der (heterosexuelle) Peter Schneider in seinem jüngsten Roman über die Achtundsechziger- Generation. Es hat den Anschein, als verliere Leidenschaft ihre Kraft, weil sie nicht mehr am Widerstand von gesellschaftlichen Einschränkungen wachsen kann. Die sogenannte Schutzaltergrenze allerdings ist eine solche Einschränkung. In „P 14“ setzen ein Endreißiger und ein Vierzehnjähriger sich darüber hinweg, und heraus kommt eine der schönsten Liebesgeschichten, die die deutsche Literatur der letzten Jahre hervorgebracht hat.

Spüren wird dies allerdings nur, wer sich von der besonderen Gefühlssphäre nicht abschrecken läßt. Aber was stellte doch jüngst Marcel Reich-Ranicki beim Wiederlesen von Thomas Manns Inzeststory „Der Erwählte“ fest? „Liebe ist nie unnatürlich.“ Warum also nicht ihre Wiedergeburt im Zeichen der Päderastie, und zudem noch auf dem Boden der ehemaligen DDR? Es wäre nicht das erste Mal, daß Literatur Reinigung und Erlösung aus dem Abseitigen imaginiert. Und genau dies geschieht in „P 14“.

Kröhnke läßt seine beiden Hauptfiguren die ganze Palette erotischer Leidenschaft durchleben. Scham und Scheu zu Beginn, das ziellose Verlangen nach der Nähe des anderen, Herausbildung von Geheimsprache, die Gemeinsamkeit schafft, der Wunsch, den Geliebten zu beschenken, schließlich die unendliche Suche nach seinen Spuren, die Verwandlung des Gewohnten, das man nun mit SEINEN Augen sieht, mit SEINEN Ohren hört. Kurz: Der Zustand, vom anderen wie von einem anderen Sein durchtränkt zu sein, wird ausgebreitet wie ehedem in Longinus' „Daphnis und Chloe“, dessen Naivität ebenfalls hochbewußt war – und ebenso stilsicher.

Weder unterlaufen Kröhnke Rührseligkeiten, noch jene religiös-metaphysischen Überhöhungen, die deutsche Dichter so gern aus ihrem Triebleben ableiten. Und auch in die geschwätzige Infantilität eines Tucholsky gleiten die verliebten Albernheiten von Kautz und David nicht ab. Die beiden bestätigen sich gegenseitig, erklären sich wohl auch ihre Liebe, ohne doch durch zuviel Wortemachen den Zauber dessen, was sie verbindet, zu zerstören. Vor allem aber lassen sie sich Zeit und entfalten dabei erotische Kultur.

Allerdings – dies ist der Trick in Kröhnkes Konstruktion – gelingt all das nur, weil die Verteilung der Rollen bei dem „ungleichen“ Männerpaar notgedrungen klar und übersichtlich ist. Es versteht sich, daß der Ältere aus dem zivilisierten Westen die Initiative ergreift, das Tempo vorgibt und sozusagen das Ganze lenkt. Bei ihm entwickelt sich die Liebe rasch, beim Jüngeren aus dem „hinterwäldlerischen“ Osten langsam. Dafür ist sie mit sexueller Neugierde gemischt, die mit dem frischen Stolz, begehrt zu werden, machtvoll erwacht.

Mit seiner Technik des sparsamen Strichs gelingt Kröhnke die Darstellung eines Frühlingserwachens, die dank einer gewissen bukolischen Heiterkeit in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen sucht. Wenn der Junge nach vollzogenem Liebesakt fragt, als habe man soeben gemeinsam die Schularbeiten erledigt: „Und was machen wir jetzt?“, wenn er seinen Lover, der sich von unten an seiner kurzen Hose zu schaffen macht, den praktischen Tip gibt: „Von oben kommst du besser ran“, dann kann der Leser sein Lachen kaum unterdrücken.

Mag es auch Ziel dieses Buches sein, einen Beitrag zur Wiedererlangung erotischer Zivilität zu leisten; die erzieherische Absicht geht nie auf Kosten der Unterhaltsamkeit.

Friedrich Kröhnke: „P 14“. Roman. Ammann-Verlag, Zürich 1992, 251 Seiten, 39,80Mark.

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