: Stasi jagte Schwarze Zelle Reichsbahn
Sieben Jahre bemühten sich Mielkes Männer vergeblich, in eine vermeintliche linksradikale Organisation bei der Ostberliner Reichsbahn einzudringen/ Anlaß waren Lohnforderungen ■ Aus Berlin Wolfgang Gast
Die Stasi warnte frühzeitig: Achtung, Linksradikale. „Inoffiziell wurde bekannt“, hielt Oberstleutnant Otto für die Berliner Bezirksverwaltung der Stasi fest, „daß im Laufe des Monats Januar 1976 bei der Reichsbahn in Westberlin ein Flugblatt mit Lohnforderungen durch linksradikale Kreise herausgegeben werden soll.“ Die Information hatte Bedeutung, schließlich handelte es sich bei der Reichsbahn um einen Verkehrsbetrieb der DDR, bei dem zwar Westberliner Mitarbeiter beschäftigt waren, Arbeitskämpfe aber keinesfalls geduldet wurden. Den Organisator der Flugblattaktion glaubte die Stasi aufgrund der Aussagen Inoffizieller Mitarbeiter zu kennen: der Neuköllner Wolfgang W., Spitzname „Mäxchen“.
Mäxchen war der Berliner Bezirksverwaltung kein Unbekannter. Er wurde seit Jahren in einer „operativen Personenkontrolle“ (OPK) bearbeitet. Schon 1972 hatte die Stasi ihn verdächtigt, Flugblätter für eine „Schwarze Zelle Reichsbahn“ in Umlauf gebracht zu haben. „Ferner wissen wir, daß er auch gegenwärtig in anarchistischen Kreisen in Westberlin verkehrt“, meldete der Stasi- Offizier Otto dem Stellvertreter der Bezirksverwaltung.
Der Staatssicherheitsdienst hatte sich über Jahre bemüht, das Leben des Organisators der „Schwarzen Zelle“ auszuforschen. Ermittelt wurde auch im Westen Berlins. Zwei Stasi-Mitarbeiter gaben sich als Angehörige des Westberliner Staatsschutzes aus, sie befragten die Nachbarn in Mäxchens Wohngegend. Heraus kam dabei nichts. Auch unter den Arbeitskollegen, selbst in der Poliklinik der Reichsbahn wurden die verschiedensten IMs beauftragt, Wissenswertes über Mäxchens Lebenswandel zu sammeln. Dabei wurde allerlei Unsinn zu Papier gebracht. Mal wurde vermerkt, daß Mäxchen möglicherweise schwul sei, mal wurde festgehalten, er lege Wert auf saubere Kleidung. Andere IMs beurteilten das Äußere des Ausgespähten dagegen als verlottert.
Höhepunkt war eine kriminaltechnische Untersuchung im August 1972, als die technische Untersuchungsanstalt des MfS die Speichelreste auf der Klebefläche eines Briefumschlages mit Speichelresten an Zigarettenresten verglich, die die Stasi zu Untersuchungszwecken beschafft hatte. Festgestellt wurde, daß die Blutgruppen übereinstimmten – mehr nicht.
Vier Jahre nach Beginn der „operativen Personenkontrolle“ wurde der Apparat erneut in Gang gesetzt. Diesmal klärte auch IM „Wolfgang Papke“, ein Mitglied der Alternativen Liste in Westberlin, auf. Seinem Führungsoffizier teilte er am 10. Januar nach einem Kneipenbesuch mit Mäxchen mit: „Etwa gegen 20.30 Uhr gab es kurz eine Gelegenheit, mit W. allein zu sprechen. Ich fragte ihn, wie weit die Flugblätter sind. Er sagte mir, daß X sich die Halswirbel verrenkt hat und zur Zeit nicht drucken kann. Vielleicht könne er Montag oder Dienstag wieder arbeiten.“ Weiter brachte „IM Papke“ in Erfahrung, daß zur Verteilung „genügend Leute da sind“. Wichtig genug erschien dem Informanten zu vermerken, daß in der Kneipe „allgemein viel rumgeblödelt und rumgegrölt wurde. Zwischendurch wurde auch mal ein Arbeiterlied angestimmt.“ Am 22. Januar wurde es schließlich konkreter: „Er [Mäxchen] teilte mir mit, daß die Flugblätter jetzt gedruckt sind und sie bereits bei ihm zu Hause liegen... Er sagte mir, daß voraussichtlich am Montag die Verteilung der Flugblätter beginnen wird.“ Oberstleutnant Otto konnte schließlich seinen Vorgesetzten mitteilen: „Inoffiziell wurde bekannt, daß der Druck von 2.000 Exemplaren fertiggestellt ist.“ Die Verteilung solle am 26.1.1976 vor den Einrichtungen der Reichsbahn in Tempelhof, im Grunewald und vor der „Poliklinik West“ bei Arbeitsbeginn erfolgen. Der Inhalt, stellte der Offizier fest, „entspricht dem Entwurf, der unserer Information vom 5.1.76 beiliegt“. Darin wurden rückwirkend für 1975 für die West-Mitarbeiter der Reichsbahn ein Inflationsausgleich von 380 DM gefordert – ab März 76 forderte die „Schwarze Zelle Reichsbahn“ für „alle Kollegen der DR (Westberlin) 100,- netto mehr“.
Wie das Flugblatt schließlich verteilt wurde, ist in den Unterlagen der Stasi nicht dokumentiert worden. In einem Bericht aus dem April wurde nach „IM Papkes“ Angaben lediglich festgehalten, daß Mäxchen bei einer Diskussion unter Reichsbahnern behauptet hatte: „Ich kann beweisen, daß ich bei der Verbreitung der Flugblätter der ,Schwarzen Zelle‘ mitgewirkt habe.“ Als Erfolg führte Mäxchen an, daß selbst die Springer-Presse über die „Schwarze Zelle“ geschrieben hatte.
Insgesamt sieben Jahre, von 1973 bis 1980, wurde Mäxchen von der Stasi „operativ bearbeitet“, „da er Ausgangspunkt für die Entstehung einer neuen linksradikalen Gruppe sein konnte“. Sieben Jahre jagten Mielkes Männer indessen ein Phantom: Die „Schwarze Zelle Reichsbahn“ hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Der Name war nur Phantasie-Produkt, die Flugblattaktion das Werk eines einzigen Mannes, der die Flugschriften seinen Kollegen mitgab. Weil diese die Flugblätter entlang der S-Bahn-Strecken in Windeseile verbreiteten, glaubte die Stasi an die Existenz einer straff geführten Organisation – die Stasi wurde Opfer einer Spaßguerilla.
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