: Todesbilder
Macht ist Potenz und Potenz ist Mord: Shakespeares Kriegerdramen „Macbeth“ und „Titus Andronicus“ – ein Paradies für Kommentatoren ■ Von Gerhard Preußer
Krieg in Europa: die hohe Zeit der Shakespeare-Rezeption. Nach der Welle von „König Lear“-Inszenierungen, der Tragödie des Zerfalls eines Reiches, nun, pünktlich zum 50. Jahrestag des Endes der Schlacht um Stalingrad, zeitgleich mit dem Neubeginn der Kämpfe in Kroatien, die Kriegerdramen „Macbeth“ und „Titus“.
Shakespeare kannte unsere Zeit, oder wir erkennen unsere in seiner. Krieg war für Shakespeare eine Realität, die er persönlich gar nicht kannte, die doch sein Leben ebenso bestimmte, wie sie nun das unsere bestimmt, als tägliches Schauerlebnis. Zu seiner Zeit konkurrierte das Theater mit dem Schafott, heute mit den Fernsehnachrichten. Abgeschlagene Köpfe sah man im elizabethanischen London bei öffentlichen Hinrichtungen, heute sehen wir sie in Kriegsreportagen aus Bosnien.
„Titus Andronicus“, Shakespeares wahrscheinlich früheste Tragödie, ist eine Orgie der Gewalt: einunddreißig Leichen auf der Bühne, mindestens zehn Morde, abgehackte Gliedmaßen. Ein monströses, mechanisches Stück, brutal wie Kasperletheater. „Macbeth“, eine von Shakespeares reifsten Tragödien, scheint dagegen eine sparsame Etüde der Gewalt: nur drei Morde. Aber hier wissen die Mörder, was sie tun. Hier quält sich das Gewissen vor jedem Mord. Ein straffes, psychologisches Stück, schrecklich wie die Welt, in der wir leben.
Shakespeare heute, das ist ein Paradies für Kommentatoren. Nicht nur die Editoren der englischen Shakespeare-Industrie, nicht nur die deutschen Übersetzer, auch die Theatermacher schwelgen im Erfinden neuer Zutaten. In Mühlheim heißt der Kommentator Roberto Ciulli und ist auch Regisseur, in Köln trägt er den „Niemandsnamen“ (so nennt er sich selbst in seinem Kommentar) Müller und Regisseur ist hier ein anderer: Günter Krämer. Das Verfahren jedoch ist ähnlich, wenn auch das Resultat ganz gegensätzlich. Shakespeares Text wird überlagert von Zusatztexten, in Mühlheim von improvisierten Schauspielertexten, Zitatfetzen von Büchner, Leonardo da Vinci und Schopenhauer, in Köln von episierenden Kommentaren des Shakespeare-Kollegen Heiner Müller. Was Shakespeare uns heute zu sagen hat, entscheidet sich jedoch nicht am Kommentartext, sondern daran, wie man den Haupttext zum Sprechen bringt.
Roberto Ciulli enttäuscht alle Erwartungen: „Macbeth“ ist bei ihm kein Stück über Macht und Männer, sondern über Frauen und Angst. Der Abend beginnt mit der nervösen Unterhaltung dreier Frauen in irgend einem Jenseitsbunker. Die Bühne gähnt leer, groß und schwarz, offen bis zur Brandmauer. Die Bühne ist eine Bühne, ist ein Bunker, ist ein Ort der Toten. Die drei Schwestern aus Ciullis Tschechow-Inszenierung vegetieren hier als die drei Parzen, Nornen, Hexen weiter. Oben dröhnt die Schlacht. Bomberstaffeln, Panzergrollen, ohrenbetäubender Lärm. Im Schein einer funzeligen Glühbirne beantwortet eine der Frauen eine Explosion mit dem Ausbruch: „Sie kriegen den Hals nicht voll. Irgend etwas muß sich ändern.“ Den nächsten Einschlag kommentiert sie sarkastisch: „Ja, Männer. Die Männer haben natürlich mit diesem Unsinn angefangen.“ Dann schwärmt sie von Eiskunstläuferinnen, zählt die Olympiasiegerinnen auf. So präsentiert die Inszenierung auf Umwegen ihr Thema: Kunst und Barbarei, Humanität und Terror.
Shakespeare kommt zunächst nur in Originalsprache vor. „Foul is fair and fair is foul“, das Lied von der Umwertung der Werte, trällern die guten Hexen, als wär's ein alter Schlager. Dann endlich merkt man, daß man doch im richtigen Stück ist. Macbeth kommt aus dem Schlachtenqualm mit Donnercrescendo: Auftritt einer Kriegsmaschine, erst mit erhobenem Beil, dann mit automatenhaft zuckendem Messer. Die Hexen begegnen ihm als kuriose Gestalten: eine gefallene Eisläuferin, ein geflügeltes Wesen mit weißem Mieder und schwarzer durchsichtiger Strumpfhose, die die Frage nach dem Geschlecht der Engel eindeutig beantwortet, und eine verhuschte Salonschlampe.
Kurz darauf folgt die andere Variante des Verhältnisses von Kunst und Barbarei: die Ästhetisierung des Schreckens. König Duncan beschreibt die Schlacht, aus der Macbeth gerade kam, als musikalische Komposition und vergleicht Macbeth mit dem Trompetensignal aus Beethovens „Fidelio“, das die rettende Botschaft ankündigt. In diesem vielversprechenden Anfang sind noch alle Elemente von Ciullis erprobter Ästhetik zu finden: detailgenaue Bilder ohne Eindeutigkeit, Eingriffe in das Stück, die es für heutige Assoziationen aufbrechen. Aber dann übernimmt der Darsteller des Macbeth, Fritz Schediwy, das Kommando, und der Regisseur tritt ab (genauer: die Regisseure; Ciulli verantwortet die Produktion des Theaters an der Ruhr mit einem Co-Regisseur, dem Filmemacher Hans Peter Clahsen). Schediwy brüllt und zischt, rollt mit den Augen, stampft herrisch und eitel herum, da ist kein Platz mehr für andere. Auch nicht für Petra van der Beek als Lady Macbeth. Gegen diesen egomanischen Berserker der Schauspielkunst wäre auch eine weniger scheue Lady machtlos.
Ciullis Regie, soweit davon noch etwas zu erkennen ist, zielt eher auf die Verinnerlichung der Vorgänge. Alle Morde sind von der Bühne ins Off verbannt, aber alle großen Monologe werden sorgfältig ausgespielt. Nur veräußerlicht Schediwy dann ohne Differenzierungsvermögen alles wieder zur schlechten Operschmiere. Wenn er später sein berühmtes Fazit zieht, (in Barbara Rojahn- Deyks philologisch genauer, aber sprachlich anspruchsloser Prosaübersetzung): „Das Leben ist nichts als ein armer Schauspieler, der seine Stunde auf der Bühne stolziert und sich quält und dann nicht mehr gehört wird: es ist eine Geschichte, von einem Idioten erzählt, voller Schall und Raserei, ohne Bedeutung“, dann ist das keine Vorwegnahme existentialistischen Lebensekels, sondern ein genaues Selbstportrait.
Nur gelegentlich noch zeigt sich, wie die Regie das Thema Macht auf Sexualität zurückführen wollte. Daß Lady Macbeth von ihrem Mann den Mord an König Duncan fordert wie einen Sexualakt, den Macbeth dann auch spielerisch mit dem Messer simuliert, gehört schon fast zur Aufführungstradition. Aber wie dann Ciulli die Szene mit den Mördern zum sexuell aufgeladenen Traumbild umformt, ist faszinierend. Die beiden Mörder, die Macbeth für die Ausschaltung Banquos gedungen hat, sind ein Mann und eine Frau. Macbeth sitzt halbnackt auf seinem Thron und gibt ihnen Anweisungen, während die beiden sich halb unterm Theatervorhang verborgen nackt aufeinander wälzen. Der männliche Mörder springt herbei und wieder weg, hackt sich hinter dem Vorhang einen Finger oder sonst was ab und bringt ihn Mac
beth, der ihn knirschend verschlingt, wie Goyas Riese seine
Menschen. Macht ist Potenz und Potenz ist Mord.
Am Ende dann sitzt Macbeth als alter Mann einsam in seinem Führerbunker und gibt Durchhalteappelle durchs Telefon. In sein Tagebuch trägt er unter dem Datum des Tages der Vorstellung ein: „Weltuntergang. Gott ist scheintot, Gott kommt, Gott ist da.“ Dann dringt Macduff ein und will ihn töten. Anders als bei Shakespeare verweigert Macbeth den Zweikampf, er stellt sich selbst bereit zur Exekution, schlägt sich das schwarze Tuch um den Kopf und erwartet den Genickschuß. Dies ist die schwarze Hoffnung am Ende einer zornig kargen, verzweifelt selbstverliebten Aufführung: daß auch die Mordmaschine Macbeth ein Mensch war, der sich selbst erkennen wollte. Im Lichtblitz des Mündungsfeuers endet dieser lange, düstere Abend.
Günter Krämer in Köln hat mit Heiner Müller einen Shakespearebearbeiter, der spielend die Brücke vom Untergang Roms über den elizabethanischen Dramatiker ins Heute schlägt. 1985 wurde Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome“ uraufgeführt, ein Mittelding zwischen Bearbeitung und Übersetzung. Der erste Akt von Shakespeares Tragödie ist weitgehend durch einen epischen Bericht ersetzt, die folgenden Akte sind in Müllers rauher, kantiger Sprache wörtlich übersetzt, aber mit Kommentaren durchschossen. So braucht Krämer sich nicht mit Aktualisierungsversuchen aufzuhalten und konzentriert sich ganz auf die Erfindung aparter Bilder.
Schon der Anfang ist große Oper: Hinter einer niedrigen Brüstung stehen die Römer, wippend im Takt zu einer Musik von Philip Glass: talgig weiße Gestalten in bizarren Phantasieuniformen, blutleere Gespenster einer untergehenden Epoche. Feldherr Titus Andronicus (Gerd Kunath) kommt siegreich zurück vom Krieg gegen die Goten. Die zehn Leichen seiner gefallenen Söhne werden in schwarzen Plastiksäcken vorne an der Rampe aufgereiht. Zur Jubelfeier tauchen blitzschnell kreischende, fähnchenschwenkende Kinder hinter der Balustrade auf und sind schon wieder weg. Dann wird in feierlichem Ritual der gefangene Gotenprinz geopfert. Auf einem schrägen Tisch werden seine Kleider mit der Rasierklinge aufgeschlitzt und abgenommen, dann fließt das Blut aus seinem Körper, Lavinia (Ingrid Andree), die Tochter des Titus, taucht einen Zweig hinein und benetzt ihre toten Brüder mit dem Opferblut.
So stellt die Inszenierung sorgfältig und geschmackvoll Bild für Bild das Horrorszenario nach. Wenn Lucius (Martin Reinke), der letzte Sohn des Titus, ins Exil geht zu den Goten, seinen früheren Feinden, dann spricht er seinen Text kopfüber an einem Goten hängend. Wenn Tamora (Traute Hoess), die Gotenkönigin, als personifizierte Rache zu Titus kommt, der sich seine Hand abgeschlagen hat, dann balanciert sie sechsarmig wie eine indische Göttin auf dem Geländer. Diese Bilder sind überraschend und erhellend, aber immer klar und eindeutig. Es bleibt kein Rätsel ungelöst. Was albernes Gemetzel sein könnte oder schrille Hysterie, wird zum schauerschönen Spektakel. Keine Rührung, kein Gelächter, nur Staunen über die kalte Pracht der Todesbilder.
Die Müllerschen Kommentartexte werden, ganz nach seiner Anweisung, abwechselnd von verschiedenen Figuren vorgetragen. Die gewichtigsten zischelt Aaron (Alexander Grill), der Neger und Geliebte der Gotenkönigin, in ein Mikrophon: „Die Späher Attilas gehn als Touristen durch die Museen und beißen in den Marmor, messen die Kirchen aus für Pferdeställe und schweifen gierig durch den Supermarkt, den Raub der Kolonien, den übers Jahr die Hufe ihrer Pferde küssen werden, heimholend in das Nichts die erste Welt.“ Für diese politische Dimension des Stückes, die Parallelisierung der Geschichte des Untergangs des römischen Reiches mit der Gegenwart, die Wirren der Völkerwanderung mit der Invasion der dritten Welt, interessiert sich die Inszenierung nicht.
Die modische Eleganz des Schreckens verdankt sich auch dem Bühnenbild aus Licht, das der Kölner Lichtdesigner Wolfgang Göbbel auf die Bühne strahlen läßt. Kunstvoll schillern und changieren die Farben, öffnen und schließen sich Räume: ein Lichterzauber, der mit Ah und Oh bewundert werden will, dem Stück jedoch nur äußerlich zum Glanz verhilft. Die Vergewaltigung und Verstümmelung Lavinias spielt in einem „Wald der Kunst“ aus Metallstangen, die im Seitenlicht funkeln und dann aneinanderschlagen, ein blechernes Geläute, zu dem sich Lavinia blutbesudelt, zeitlupenlangsam am Boden windet. Das Grauen in glitzernder Verpackung.
Nach viereinhalb Stunden endet das schicke Schauerschauspiel in einem Dinner von bizarrer Eleganz. Lavinia tanzt den letzten Walzer mit ihrem Vater, dann wird sie barmherzig von ihm abgestochen und von den Römern als Märtyrerin im Trauerzug emporgehoben. Tamora findet die Köpfe ihrer Söhne unterm Silberdeckel im bröseligen Kuchenteig, und die Soldateska der Goten steht rauchend bereit zur Machtübernahme. Auch hier wird kein neuer Kaiser mehr gekrönt, der Lorbeer liegt irgendwo im Bühnenmüll, ein Diener findet ihn und spielt Krönung damit.
Zorniges, wildwütiges Scheitern an Shakespeare in Mühlheim, allzu glatter, kühl kalkulierter Erfolg in Köln. Das unfertige Schöne als Anfang des Schreckens hier, die vollendete Schönheit als Ende des Schreckens dort.
„Anatomie Titus Fall Of Rome“, ein Shakespearekommentar von Heiner Müller im Kölner Schauspielhaus. Regie: Günter Krämer, Bühne/Licht: Wolfgang Göbbel, Kostüme: Andreas Reinhardt und Mechthild Seipel. Mit Gerd Kunath, Ingrid Andree, Martin Reinke. Nächste Aufführungen: 5., 15. und 28. Februar.
„Macbeth“ von Shakespeare, Regie: Roberto Ciulli/Hans Peter Clahsen, Ausstattung: Klaus Arzberger/Gralf-Edzard Habben. Mit Fritz Schediwy, Petra van der Beek. Nächste Aufführungen: 11., 12.2. im Kölner Schauspielhaus, 17.2. im Musiktheater im Revier, 21.2. in der Stadthalle Mühlheim
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