: Patient tot – die Pathologen leben
Ein Sammelband zum Zusammenbruch der DDR scheitert an der Erklärung der „DDR-Revolution“ und läßt jede methodische Selbstkritik vermissen ■ Von Christian Semler
Wladimir Iljitschs These, wonach eine revolutionäre Situation die Unfähigkeit der Herrschenden, weiter zu regieren, ebenso voraussetze wie die Unwilligkeit der Beherrschten, sich weiter regieren zu lassen, wäre nicht der schlechteste Ansatz, den Zusammenbruch des SED-Regimes 1989 in den theoretischen Griff zu bekommen. Tatsächlich geht es um die Verschränkung subjektiver und objektiver Faktoren innerhalb des sich rasch aufschaukelnden Krisenmechanismus. Welches Gewicht hatten auf der subjektiven Seite diejenigen, die mit dem Schlachtruf „Wir bleiben hier“ friedliche Systemtransformation betreiben wollten gegenüber den Scharen derjenigen, die „Wir wollen raus“ skandierten und sich damit endgültig vom Realsozialismus, in welcher Gestalt auch immer, abnabelten? Und auf der objektiven Seite: Wie sind die äußeren Elemente der Entstabilisierung, voran die Perestroika Gorbatschows, gegenüber den inneren zu beurteilen, und wie stellt sich schließlich im Sommer 1989 in der DDR das Verhältnis von politischer und ökonomischer Krise, von den Defekten der System- gegenüber der Sozialintegration dar? Auch 1993 noch spannende, ja erregende Fragen, auf die ein Autorenkollektiv (wie man in der DDR früher so sagte) unter der editorischen Anleitung von Hans Joas und Martin Kohli Antworten zu geben versucht.
Die „Mischung“ dieses Kollektivs ist ausgesprochen interessant. Zu Wort kommen altgediente Schlachtrösser des DDR-Forschungsgewerbes wie Sigrid Meuschel oder Gerd-Joachim Glaessner, versierte Soziologen wie Offe und der empirische Sozialforscher Wolfgang Zapf und – die eigentliche Pointe – prominente Vertreter der untergegangenen DDR-Wissenschaft, voran Rolf Reißig und Manfred Lötsch. Die Hauptschwierigkeit oder besser die Falle des ganzen Unternehmens liegt in dem Zeitpunkt, zu dem die meisten der Aufsätze entstanden, nämlich 1990/91. Damals war klar, daß die schließliche „Wende in der Wende“, d.h. der bedingungslose Anschluß der DDR an die BRD, die Sozialstruktur der DDR tief umpflügen und zu schweren Erschütterungen im Denken und Fühlen der Ex-DDR-Bürger führen würde. Alle in dem Suhrkamp- Band versammelten Aufsätze haben darin versagt, in den Geschehnissen von 1989 die Tendenzen aufzuspüren, die sich seit Sommer 1992 auf so schreckliche Weise manifestieren. Offe diagnostiziert nur einen „funktionalen“ Nationalismus, eine Art harmlose Verkleidung, mit der die Ossis ihre ökonomischen Forderungen legitimieren. Zapf, der es besser wissen müßte, kann beim Parameter der „Zufriedenheit“ keine wesentlichen Abweichungen zwischen Ost und West entdecken. Dieses Unvermögen, in Leipzig 1989 die Vorboten von Rostock 1992 auszumachen, setzt ein älteres Versagen fort: Es geht um die Unfähigkeit der meisten westlichen DDR-Forscher der 70er und 80er Jahre, eine existenzbedrohende Krise des realen Sozialismus auch nur „rein theoretisch“ zuzugestehen. Offenbar war die Identifikation mit dem Liebes- bzw. Haßobjekt DDR, auf das man so viele Jahre Forscherfleißes verwandt hatte, zu groß, um den möglichen Tod des Patienten zu imaginieren. Folgerichtig findet sich in der Sammlung keinerlei selbstkritische Reflexion auf die vergangene eigene Arbeit. Diese Aufgabe, die gängigen Theorien zum Realsozialismus mit der Realität zu konfrontieren, überließ man vorsichtshalber zwei amerikanischen Forschern, die sich am Versagen ihrer akademischen Kollegen weiden dürfen.
Die meisten der versammelten Arbeiten, sofern sie nicht (mit durchaus verdienstvollem Ergebnis) deskriptiver Natur sind, analysieren lediglich die strukturellen Ursachen der Krise, ohne die systembedingten Defekte in einen wirklich überzeugenden Zusammenhang mit den sich überschlagenden Ereignissen des Sommers 1989 bringen zu können. Diese generelle Einschränkung vorausgesetzt, bietet der Band interessante Ansätze, vor allem mit der Arbeit Sigrid Meuschels. Für sie war die DDR eine klassenlose Gesellschaft in dem Sinn, daß sich die unterschiedlichen klassen- und schichtenspezifischen Interessen und Bedürfnisse der DDR-Bevölkerung nicht artikulieren und damit nicht organisieren konnten; daß zwar nicht der Staat, wohl aber die Gesellschaft abgestorben war. Diese These bringt die Autorin in Zusammenhang mit den apolitischen Traditionen des deutschen intellektuellen Milieus, die auch und gerade die oppositionelle Intelligenz in der DDR geprägt und damit zur politischen Einfußlosigkeit verurteilt hätten. Schade, daß die Gelegenheit versäumt wurde, diesen und einige andere originelle Ansätze unter den Autoren des Sammelbandes zirkulieren zu lassen und damit eine wirkliche Diskussion zu ermöglichen. Trotz alledem: ein lesenswertes, wenngleich keineswegs erheiterndes Buch.
„Der Zusammenbruch der DDR“, hrg. v. Hans Joas u. Martin Kohli, Ed. Suhrkamp 1777, 22 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen