Makler rutschen vom Parkett

Die Computerisierung der Börse geht auf Kosten der Händler/ BOSS funktioniert mäßig/ Reine EDV-Börse für 1996/97 geplant  ■ Aus Frankfurt/Main Annette Jensen

Manchmal wirkt Klaus Schwantge wie ein verliebter Schwärmer: „Ich mag an meinem Beruf die totale Identifizierung mit einem sehr, sehr großen Markt.“ Dann aber lehnt er sich, wieder ganz Geschäftsmann, in seinem Lederstuhl zurück, wirft einen flüchtigen Blick auf den neuesten Dollarkurs und spricht betont sachlich: „Nein, ich kann heute keinem jungen Mann mehr raten, freier Makler zu werden.“ Und einer jungen Frau? „Der schon mal gar nicht.“

Seit 14 Jahren bewegt sich Schwantge auf dem rotbraunen Frankfurter Börsenparkett. „Früher kam es aufs Feeling an, auf die Intuition“, so Schwantge. Die Computerisierung aber habe zu einer enormen Geschwindigkeit und zu einer Vereinheitlichung der Informationen geführt – zum Vorteil der großen Banken, die sich die Anschlüsse an alle Datennetze leisten könnten. Und jetzt versuchten sie, die Computerisierung auch für die Abwicklung der Geschäfte voranzutreiben – wovon sie niemand abhalten kann, weil die Mehrheit der Sessel im Börsenvorstand für Vertreter der großen deutschen Geldinstitute reserviert ist.

Das gerade installierte BOSS- System (Börsen-Order-Service- System) werde seinen Berufsstand so manche Courtage kosten, prognostiziert Schwantge. Und wenn es soweit komme wie in London, wo das Parkett ganz abgeschafft sei, müßten viele Maklerbüros schließen: 80 Prozent der kleinen und mittleren Brokerhäuser in der britischen Hauptstadt seien inzwischen verschwunden. „Viele ausländische Banken halten die deutsche Börse für unflexibel und veraltet“, meint Stefan Lutz, Sprecher der Frankfurter Börse. Man müsse mit der Zeit gehen. In London, wo seit 1986 alle Aktiengeschäfte ohne das Geschrei der Makler lautlos über Datenleitungen abgewickelt werden, werden inzwischen 35 Prozent der holländischen und 10 Prozent der deutschen Wertpapiere gehandelt. Vor der Einführung des BOSS-Vorläufers IBIS (Integriertes Börsenhandels- und Informationssystem) in Frankfurt seien es sogar 14 Prozent gewesen.

Mit der Installierung eben dieser IBIS-Computer im April 1991 begann in Frankfurt die Aufholjagd. Seither können Makler und Banker auch außerhalb der Handelszeiten im Saal die 30 umsatzstärksten Aktien, die den DAX- Index bilden, und einige andere wichtige Papiere per Computer anbieten oder kaufen. Im Gegensatz zur Präsenzbörse versucht hier allerdings kein Kursmakler, Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen und so einen möglichst schwunghaften Handel herzustellen. Was die Gebühren angeht, kommen die meisten Kunden bei IBIS billiger davon, als wenn sie ihre Order über einen Makler abwickeln: 3,50 Mark werden für jeden Auftrag fällig. Zwar kostet beim Parketthandel auch ein millionenschwerer Order nur 54 Pfennig Abwicklungsbetrag; aber die Makler bekommen 0,12 Prozent des Umsatzes an Courtage. Inzwischen werden 30 Prozent der Geschäfte mit den in IBIS-vertretenen Papieren über das System gehandelt.

Der zweite große Schritt der Frankfurter Börse in Richtung Handelsabwicklung per Computer heißt BOSS. Der Name ist Programm. „Ein Ziel von BOSS ist, den Banken den Abbau von Personal zu ermöglichen“, gibt Lutz unumwunden zu. Während bisher die Kundenaufträge von einer Provinzfiliale zum Händler im Saal durchtelefoniert wurden, der dann mit dem Auftrag zum Kursmakler sprintete, kann mit BOSS der Kundenwunsch direkt auf den blauen Bildschirm des Kursmaklers übertragen werden. „Das verhindert Übermittlungsfehler und bringt dem Kunden Zeitvorteile: statt Minuten braucht sein Auftrag nur noch Sekunden“, so Dieter Heinemann, stellvertretender Vorsitzender der Kursmaklerkammer. Außerdem werde viel Papier gespart, weil die rund 40.000 Aufträge am Tag künftig direkt auf dem Bildschirm auftauchen und nach der Abwicklung von dort auch rückübertragen werden.

Bisher sind schon 25 Banken und 9 Freimakler angeschlossen. Lutz rechnet allerdings damit, daß sich ihre Zahl extrem erhöht, sobald in diesem und im nächsten Monat auch die zentralen Aktien über BOSS gehandelt werden können. 2.100 Mark kostet ein einfacher Dialoganschluß im Monat; für 15.000 Mark darf die Bank BOSS mit ihrem eigenen EDV-System vernetzen. „BOSS lohnt sich nur für Banken, die am Tag mehr als 1.100 Order haben – das sind in Deutschland zwischen 15 und 20 Häuser“, meint Freimakler Schwantge. Viele kleine Banken werden sich aus dem Wertpapierhandel zurückziehen, fürchtet er.

Noch allerdings funktioniert das System mehr schlecht als recht. Als im November die ersten amtlichen Makler das System hinter ihren ochsenblutroten Tresen in Betrieb nahmen, mußte die Börsenzeit um eine Stunde verlängert werden. Sie fanden auf den Bildschirmen die Werte nicht mehr wieder. Viele griffen erneut zum Stift, um den Kurs nach alter Manier zu ermitteln. „Es ist eine gewaltige Umstellung. Aber wir trachten danach, mit BOSS die gleiche Geschwindigkeit zu erreichen wie vorher“, versichert Heinemann jovial. Aber Jürgen Ballmaier, kursfeststellender Freimakler, hat nur Hohn und Spott für das neue System übrig. „Da sitzt dann so ein armes Lehrlingsschwein in einer kleinen Bank und bemerkt seinen Tippfehler nicht. Der hat ja gar kein Gespür für die Größe der Order“, so der Händler, der seit 15 Jahren auf dem Parkett rumrennt und -brüllt. Und der Kursmakler habe keine Chance, den Fehler zu entdecken, weil er den Auftraggeber nicht mehr kenne und die Order nicht beurteilen könne: „Die Sensibilität geht verloren, der Kursmakler wird zum Roboter.“ Die Börsen AG aber will auf dem Weg zur Computerisierung weiter voranschreiten. 1996/97 soll das elektronische Handelssystem EHS fertig sein, bei dem Computer alle Funktionen der Parkettbörse übernehmen. „Es wird sich dann zeigen, ob sich das EHS oder das Parkett durchsetzt“, meint Lutz ganz marktwirtschaftlich.

Die Makler aber, die sich selbst als Hüter des freien Marktes sehen, protestieren lauthals gegen diesen Wettbewerb, der ihren in Frankfurt ausschließlich von Männern ausgeübten Beruf vom Parkett fegen könnte. „Wir sind keine Technikstürmer“, so der amtliche Makler Heinemann. „Aber wir Kursmakler sind wichtig, damit der Markt aufrechterhalten wird und nicht die großen Banken nach einem brutalen Verdrängungswettbewerb alles dominieren.“ Schwantge sieht mit dem EHS gar eine Monopolstellung der Deutschen Bank am Horizont auftauchen. Außerdem habe der Börsenkrach von 1987 in New York gezeigt, daß der Wertpapiermarkt durch die Computerisierung völlig unsteuerbar werden könne: ein relativ kleiner Impuls habe wie eine Lawine gewirkt. „Die Weltwirtschaft hätte zusammenbrechen können. Ich möchte nicht wissen, was das bedeutet hätte.“