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Ohne Maß und Barmherzigkeit-betr.: "Andre Bries unbekannte Stasi-Dienste", taz vom 27.1.93

betr.: „André Bries unbekannte Stasi-Dienste“, taz vom 27.1.93

[...] Eigentlich packt mich angesichts der begeisterten Vergangenheitsbewältigung in Sachen Stasi immer ein leichtes Unwohlsein und der Wunsch, die Bibel zu zitieren, zum Beispiel „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ oder „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“. Aber der Artikel von Wolfgang Gast hat mir ausgesprochen wohlgetan. Ich habe André Brie nämlich als einen ausgesprochen klugen, nachdenklichen und feinfühligen Menschen kennengelernt. Und da bin ich doch sehr erleichtert, daß er seine Vergangenheit kritischer und grundsätzlicher sieht als seine Gegner. Denn das, was in der taz veröffentlicht ist, entspricht doch gerade eben noch den regelmäßigen Beurteilungen, die bei uns im freien Westen jeder Vorgesetzte regelmäßig über seine Mitarbeiter zu Papier bringt.

Allerdings kann natürlich Bries sehr positive Einschätzung anders aufgenommen worden sein. Das kennt man ja auch aus den Beurteilungen hier bei uns. Einer der „zielstrebig“ genannt wird, kann natürlich insgeheim als Versager gegolten haben, und ein „kluger, hochgebildeter Politiker“ kann natürlich gefährlich sein. „Intellektueller“ hat in Deutschland schließlich immer etwas Bedenkliches. Sehr begeistert hat Brie offensichtlich auch nicht. Ihm wurde nur Bronze zuerkannt. Das ist schwach. Stark dagegen ist, daß André Brie offensichtlich schon immer seiner Zeit weit voraus war. So war er so „beflissen noch im Oktober 1989“, daß er das schon im April kundgetan hat, wenn man dem Dokumentenausschnitt in der taz trauen darf.

Es erscheint schon recht lächerlich, was hier pharisäerhaft und spießig als große Enthüllung verkauft wird. Die Problematik sollte wirklich ernsthafter angegangen werden. Wenn nicht schon immer die Verurteilung feststünde, wenn wirklich eine Auseinandersetzung stattfinden könnte, wären wohl viele unserer „Brüder und Schwestern“ eher in der Lage, sich zu offenbaren. In der Atmosphäre, die wir derzeit haben, kann man niemandem raten, sich denen anzuvertrauen, die ohne Maß, ohne Selbstkritik und ohne Barmherzigkeit über sie herfallen. Manches gäbe es in Deutschland aufzuarbeiten. Schade, daß wir es nicht packen. Schade, daß auch die taz mit den Wölfen heult. Irmgard Jasker, Wedel

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