: Historische Wahrheit und juristisches Elend
Der Prozeß gegen den ehemaligen Stasi-Chef Erich Mielke wegen der Morde an zwei Polizisten im Jahre 1931 geht seinem Ende entgegen/ Ob Freispruch oder Verurteilung – jedes Urteil wird Zweifel auslösen ■ Von Julia Albrecht
Stünde Erich Mielke vor einem Geschworenengericht, wäre der Ausgang klar: schuldig im Sinne der Anklage. Die Geschworenen nämlich, Durchschnittsbürger ohne jegliche juristische Vorbildung, folgen bei ihrem Schuldspruch demjenigen, so kennen wir es aus den amerikanischen Spielfilmen, der am eindringlichsten zu schildern vermag, was am Tatort zur Tatzeit passierte. Diese Rolle hat in dem Stück – Erich Mielke und die Bülowplatz-Morde Anno 1931 – die Staatsanwaltschaft. Sie schildert einen Tathergang, der die Zuhörer direkt in das Jahr 1931 versetzt, ein Sonntag im August. Gegen 20 Uhr gehen die drei Polizeioffiziere Paul Anlauf, Franz Lenck und Richard Willig über den Bülowplatz. Die Stimmung ist aufgeheizt, viele Menschen sind unterwegs. Am Vortag ist an eben diesem Platz der Klempner Auge, Sympatisant der KPD, von einem Polizisten erschossen worden. Überall hängen Aufrufe: „Für einen erschossenen Arbeiter fallen zwei Schupos“ oder „Für jeden Kommunisten zwei Polizisten“. Eigentlich wollten Anlauf und Willig den Streifengang allein durchführen. Doch Franz Lenck fragte, ob er mitkommen soll. Darauf Anlauf: „Wenn etwas passiert, genügt es, daß wir (Anlauf und Willig) erschossen werden.“ Lenck geht dennoch mit. Die drei machen ihren Gang über den Bülowplatz, vorbei an der KPD-Zentrale. Plötzlich hört Willig unmittelbar hinter sich eine Stimme: „Du Husar, du Schweinebacke und du den anderen“. Als er sich umdreht, sieht er bereits das Mündungsfeuer. Seine Kollegen werden erschossen, er selbst, schwer verletzt, überlebt.
Wer hat geschossen? – „Wir haben einen Zeugen, der die Schützen benennen kann“, erklärt Staatsanwalt Karl-Heinz Dahlheimer, „den Tatzeugen Johannes Broll“. Broll, 1931 noch KPD- Mitglied, hielt sich an eben diesem Abend auch am Bülowplatz auf. Dort auch sah er Erich Mielke und Erich Ziemer stehen. Als die Polizisten nur wenige Meter an ihnen vorbeigegangen waren, so Broll, fielen die Schüsse. Broll sah sich um. „Beim Umdrehen sah ich Mielke eng an der Hauswand, in Ziemers Hand sah ich eine Waffe“. Broll sprach Ziemer kurz darauf auf das Attentat an. „Was habt ihr bloß gemacht?“, fragte er, worauf Ziemer antwortete: „Du hast doch keine Ahnung. Was denkst du denn, weshalb wir uns hier den ganzen Tag herumgedrückt haben?“
Eindringlich genug vorgetragen, wäre jedem Geschworenen bereits nach dieser Erzählung klar, wie er zu votieren hätte. Doch die Staatsanwaltschaft hat noch mehr. Sie hat noch einen Lebenslauf, geschrieben 1950 von Erich Mielke persönlich. Darin heißt es: „Wegen meiner Teilnahme an der Bülowplatz-Sache schickte mich das ZK der KPD in die Sowjetunion.“
Nach dem Auftritt der Staatsanwaltschaft ist die Reihe an der Verteidigung. Anders jedoch als im Film, liefert sie nicht eine ganz andere Version des Ereignisses. Sie spricht nicht von Personen, die den Angeklagten just zur Tatzeit in einer Kneipe am anderen Ende der Stadt gesehen haben. Sie betont nicht, zumindest bisher nicht, die Tatsache, daß Broll, was immer er auch gesehen haben mag, Erich Mielke nicht hat schießen sehen. Sie spricht nicht von den Licht- und Schattenverhältnissen zur Tatzeit am Tatort, Ausführungen, mit deren Hilfe sich die „Wahrnehmung“ des Zeugen Broll vielleicht doch nur als Produkt seiner Phantasie entlarven ließe. Auch deutet sie das „Bekenntnis“, so liest die Staatsanwaltschaft den Lebenslauf, nicht um. „Teilnahme“ wird in den Worten der Verteidigung nicht zu einer beliebigen Partizipation.
Die Verteidigung wählt den steinigen Weg einer juristischen Argumentation, die sich gewaschen hat, einer Argumentation freilich, bei der unsere erdachten Geschworenen nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. „Die Sache ist verjährt“ sagt der Verteidiger Hubert Dreyling, „verjährter geht es nicht mehr“. Schon weil es sich nicht um einen Mord, sondern nur um einen Totschlag handele und ein Totschlag längst und unstreitig verjährt sei, gehöre das Verfahren eingestellt. Für einen Mord – im Unterschied zum Totschlag – hätten die Opfer „arg- und wehrlos“ sein oder die Täter aus „niedrigen Beweggründen“ gehandelt haben müssen. Schon wegen der Stimmung jener Tage – man erinnere sich nur an die Racheaufrufe – seien Anlauf und Lenck allerdings nicht arglos gewesen. Der letzte Rest einer möglichen Arglosigkeit sei aber spätestens dann entfallen, als sie hinter ihrem Rücken die Worte: „Du Husar, du Schweinebacke und du den anderen“ hörten. Auch „niedrige Beweggründe“ als mögliches Mordmerkmal kämen, so die Verteidigung schon deshalb nicht in Betracht, weil eine Tötung aus politischer Motivation niemals niedrig sein könne.
So weit, so gut. In einem normalen Mordprozeß wäre diese Argumentation möglicherweise erfolgversprechend. Im Bülowplatz- Verfahren jedoch müssen die Anwälte gegen die historische Überlieferung antreten: Der Anschlag wurde seit jeher als „Bülowplatz- Mord“ bezeichnet. Das ist sein Name. Ihn heute als Totschlag zu interpretieren, heißt ein Stück deutscher Geschichte umschreiben zu wollen. Selbst Carl von Ossietzky, der nicht im Verdacht steht, in den Chor antikommunistischer Hetze eingestimmt zu haben, schrieb 1931 in der Weltbühne: „Am Sonntag, den 9.August, abends acht Uhr, sind am Berliner Bülowplatz vor dem Lichtspieltheater Babylon zwei Polizeioffiziere, die eine Streife führten, meuchlings ermordet worden“.
Auch die Anwälte wissen wohl, daß sie mit ihrer Totschlag-Variante schwerlich Gehör finden werden. Spannen wir also noch einmal unsere Aufmerksamkeit an und lauschen der Verteidigung: Die Tat ist selbst dann verjährt, so Hubert Dreyling, wenn das Gericht den Anschlag für Mord hält. Wie das? – Die heute geltende Unverjährbarkeit für Mord wurde erst zu einer Zeit wirksam, als die Morde von 1931 bereits verjährt waren. Zwar nehme das Gericht an, daß die Verjährung „gehemmt“ gewesen sei, weil die sowjetischen Behörden die Akten einbehalten und so die juristische Verfolgung der Tat unmöglich gemacht hätten. Hier allerdings irre das Gericht. Das Einbehalten der Akten, so Dreyling, sei nicht als rechtlicher Akt zu werten. Vielmehr handele es sich hierbei um einen bloßen „Sabotageakt“, dem keinerlei rechtliche Bedeutung zukomme.
Winkeladvokatur? Mitnichten. – Die historische Rekonstruktion, auf die sich die Staatsanwaltschaft beschränkt, reicht für einen Schuldspruch nicht aus. Bewußt hat sie in ihrem Plädoyer alles, was einer Verurteilung Mielkes entgegensteht, ignoriert. Den Part, die Einwände stark zu machen, die Rechte des Angeklagten zu wahren, überläßt sie den Anwälten . So verzichtete sie auch darauf, ihre Beweise einer kritischen Würdigung zu unterziehen.
Hier setzt denn auch die zweite Linie der Verteidigung an. Sind die Urkunden, insbesondere die Niederschrift der Aussagen des Hauptbelastungszeugen Johannes Broll in einem rechtsstaatlichen Prozeß überhaupt verwertbar? – Die Urkunden, die als Beweismittel herangezogen wurden, stammen aus den Jahren 33/34, als bereits die Nazis ihren Bülowplatz- Prozeß inszenierten. Die Entscheidung, Erich Mielke, der wie kein anderer für den Repressionsapparat der DDR-Oberen steht, auf der Basis von Nazi-Dokumenten vor Gericht zu bringen, förderte von Anfang an den Verdacht, hier solle um jeden Preis verurteilt werden.
Vor diesem Hintergrund gewinnt das Plädoyer der Verteidigung seine Überzeugungskraft: Der Hauptzeuge Johannes Broll ist kein richtiger Zeuge. Nicht nur, weil er nicht mehr lebt, nur noch fiktiv in Form noch erhaltener Vernehmungsprotokolle in Erscheinung tritt, sondern auch deshalb, weil die Vernehmungsprotokolle keine verwertbaren Beweismittel im Sinne der Strafprozeßordnung sind. Das mißliche an diesen Unterlagen ist nämlich, daß ihr Zustandekommen nicht frei von dem Ruch der Nötigung, der Folter ist. Als die Nazis 1934 den ersten Bülowplatz-Prozeß veranstalteten, war Johannes Broll kein Zeuge, sondern einer der Angeklagten. Er wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Seine damaligen Aussagen, so wie all die anderen, die während des Prozesses gegen Erich Mielke verlesen wurden, sind ausnahmslos Niederschriften der Ermittlungen für den Prozeß von 1934. „Unter tätiger Mithilfe der SA“ gelang es damals – nachdem zuvor die Ermittlungen drei Jahre lang auf der Stelle getreten waren – reihenweise Kommunisten festzunehmen und ihnen Geständnisse und Aussagen abzuringen. Die Aussagen des Johannes Broll machen darin keine Ausnahme. Dennoch kommt die Staatsanwaltschaft heute zu der Auffassung, daß die Aussagen Johannes Brolls verwertbar seien. Broll war nämlich bereits 1932 von der KPD und dem RFB (Rotfrontkämpferbund) in die NSDAP und die SA übergewechselt. Deshalb sei nicht anzunehmen, daß seine Aussagen unter Folter zu Papier kamen. Doch das ist, nach Meinung der Verteidiger, falsch. Übertritte von der KPD in die NSDAP und SA geschahen damals massenhaft und wurden von der SA, nachdem ihr die Mitgliederlisten des RFB und der KPD in die Hände gefallen waren, überprüft. Einige der Übergetretenen waren U-Boote der KPD, andere hatten falsche Angaben gemacht. Es ist also sehr wohl möglich, daß Broll 1933 in eine unangenehme Lage geriet, unter erheblichem Druck stand.
Schnitt. In einem amerikanischen Spielfilm würden nun die Geschworenen gezeigt, wie sie beieinander sitzen und noch einmal den vermeintlichen Tathergangs rekonstruieren. Eine Diskussion vielleicht über die Bewertung der Aussagen Johannes Brolls, die Erinnerung an den handgeschriebenen Lebenslauf Mielkes. Sie sind sich einig geworden. Der Richter fragt, zu welchem Ergebnis sie gelangt sind. Die Antwort lautet: „Schuldig im Sinne der Anklage.“
Und in der Wirklichkeit? Drei Berufsrichter und zwei Laienrichter werden über das Urteil beraten. Sie werden abzuwägen haben zwischen der historischen Wahrheit einerseits und der Frage der Bestrafbarkeit andererseits. Es wird ihnen gehen wie den Filmmenschen. Die Darstellung des Tathergangs vor 62 Jahren wird ihnen plausibel erscheinen. Sie werden überzeugt sein, daß Erich Mielke zusammen mit Erich Ziemer die Polizisten Paul Anlauf und Franz Lenck am Sonntag, dem 9.August 1931, gegen 20Uhr erschossen hat. Es wird ihnen in den Fingern jucken, die rechtsstaatlichen Bedenken gegen eine Bestrafung bei Seite zu schieben und ein „lebenslänglich“ auszusprechen.
Es wird ihnen in den Fingern jucken, aber sie werden sich dennoch mit den Argumenten der Verteidigung auseinandersetzen. Sie werden es sich nicht leicht machen und die Einwände der Verteidigung als Scheinargumente abtun. Sie werden nicht meinen, daß allein die „historische Wahrheit“ für die Frage der Bestrafung des Angeklagten maßgeblich ist. Aber dennoch. Auch wenn sie nicht höhnen werden gegen den Rechtsstaat, der eben nicht allein die materielle Gerechtigkeit vor Augen hat, sondern auch und vor allem die formellen Rechte des Angeklagten berücksichtigt sehen will, auch dann ist kaum vorstellbar, daß sie die Bedenken der Verteidiger gegen eine Bestrafung Mielkes allzu hoch hängen werden. Zu oft bereits haben die Richter in diesem Prozeß – der sich seit elf Monaten über die Bühne des Moabiter Gerichtssaales 700 schleppt – die Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung abgelehnt, zu oft auch haben sie es abgelehnt, sämtliche Beweismittel aus den Jahren 1933/34 wegen des Ruchs der Folter für unverwertbar zu erachten.
Wieso sollten sie nun, wo sie diesen Prozeß glücklich, zumindest glücklicher als die Richter im Honecker-Prozeß, bestritten haben, einen Kurswechsel vollziehen? Stefan König, der engagierteste der Mielke-Verteidiger, zumindest der mit den präzisesten historischen Kenntnissen, müßte schon noch ordentlich auftischen, konkrete Beweise beibringen – eigentlich sollte dem Gericht der bloße Zweifel an den Beweisen genügen – daß Johannes Broll gefoltert wurde oder aus anderen Gründen die Unwahrheit sagte, um einen Freispruch Mielkes zu erringen.
Wie also wird die Geschichte ausgehen? Nicht wie in einem guten amerikanischen Spielfilm, wo die Wahrheit über das Verbrechen siegt. So herrlich einfach ist der „Fall Mielke“ nicht. Denn sollte sich das Gericht am Ende wirklich für ein „lebenslänglich“ entscheiden, wird es sich nicht loben können, der Wahrheit Geltung verschafft zu haben. Vielmehr wird es sich vorwerfen lassen müssen, Zweifel, sowohl an den Beweisen als auch hinsichtlich der Verjährung, zugunsten einer vermeintlichen Gerechtigkeit, – nicht aber zu Gunsten des Angeklagten gewertet zu haben.
Licht an. Ob Freispruch, ob lebenslänglich, Erich Mielke hat längst seinen Hut, den berühmt gewordenen Kunstlederhut, genommen. Er wird zurückgehen hinter Gitter, sei es aufgrund des Urteils, sei es, weil das Verfahren wegen der Todesschüsse an Mauer und Stacheldraht noch immer auf ihn wartet. Doch das ist eine andere Geschichte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen