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Für eine präsidiale Demokratie?

In Rußland geht das Tauziehen um das bevorstehende Verfassungsreferendum weiter/ Demokraten fordern die Absetzung des Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Ob „Es“ nun wirklich am 11.April stattfinden wird, das weiß niemand. Immerhin würden sich Befragungen zufolge knapp über 50 Prozent der 106 Millionen Wähler an „Ihm“ beteiligen. Immerhin stehen schon seine Kosten fest: Über 20 Milliarden Rubel wird das geplante Referendum über eine neue Verfassung für Rußland bestimmt verschlingen. Daß man dieses Geld genausogut zum Fenster hinauswerfen könnte, fürchtet offenbar der Vorsitzende des russischen Verfassungsgerichtes, Waleri Sorkin. Am Dienstag rechnete man in Moskau allminütlich mit einer öffentlichen Erklärung Sorkins. Er sei entschlossen, so raunten Informanten, ein Moratorium für das Referendum zu erwirken und die Zeit zu nutzen, um auch für die Zukunft die Wahrung der Gewaltenteilung zu garantieren.

Befürchtungen im Hinblick auf den geplanten Zeitpunkt der Volksabstimmung äußerte auch Vizepräsident Alexander Rutskoj in einem am gleichen Tag in der Rossijskaja Gazeta veröffentlichten Interview. Er räumt immerhin ein, daß eine neue Konstitution dem Lande bitter not tut. Bisher verfügte der Kongreß der Volksdeputierten über gewisse verfassunggebende Vollmachten, erwies sich aber zunehmend als handlungsunfähig.

Daß er eigentlich nichts dagegen habe, im alten Geleise weiter zu fahren, daran hat der Präsident beider Parlamente, Ruslan Chasbulatow, in letzter Zeit keinen Zweifel gelassen. Während er noch letzte Woche giftig vorschlug, man solle als einen der im Referendum abzustimmenden Punkte die Forderung nach gleichzeitiger vorgezogener Neuwahl des Parlamentes und des Präsidenten Rußlands aufnehmen, konstatierte der Speaker am Montag auf einem Fortbildungsseminar für Volksdeputierte aller Ebenen: „Für ein Referendum über die Grundlagen einer Verfassung ist jetzt nicht die Zeit“.

Zwei der drei Seiten, die sich im Dezember auf die Durchführung des Referendums geeinigt hatten, nämlich die Vorsitzenden des Verfassungsgerichtes und des Parlamentes, scheinen sich somit heute entschieden vom damals erzielten Kompromiß zu distanzieren. Darum handelte es sich nämlich, weil der Dritte im Bunde, Präsident Jelzin, ursprünglich als Ausweg aus der Patt-Situation zwischen der reformfreudigen Regierung und dem noch aus Zeiten der KPdSU-Herrschaft stammenden Parlament eine Volksabstimmung über die radikale Frage vorgeschlagen hatte: „Wem sprechen Sie Ihr Vertrauen aus, dem Präsidenten oder dem Parlament?“

Im gegenwärtigen Referendumsentwurf ist daraus eine für die meisten Russen wohl eher abstrakte Frage über den Charakter der Staatsmacht geworden: ob eine parlamentarische oder eine präsidiale Demokratie vorzuziehen sei. Ausgearbeitet werden soll die neue Verfassung auf Vorschlag der Referendumskommission von einer konstituierenden Versammlung. Dadurch, daß man ihren Mitgliedern eine politische Betätigung für den Zeitraum von mindestens fünf Jahren verbietet, soll sie zu einer uneigennützigen Haltung angehalten werden.

Anklang fand diese salomonische Lösung bei vielen Teilnehmern des „Runden Tisches“, „einem ständig wirkenden gesellschaftlich-politischen Forum“ breiter demokratischer Kräfte Rußlands, dem Gelehrte, Betriebsdirektoren und die meisten hochkarätigen Wirtschaftsleute des Landes angehören. Fast alle im Parlament vertretenen Fraktionen arbeiten hier mit. Angesichts dieser Meinungsvielfalt ist es aber auch kein Wunder, daß sich am „Runden Tisch“ das Tauziehen über die Durchführung des Referendums fortsetzen wird.

Vizepremier Wladimir Schumejko, gewählter Vorsitzender des neuen Diskussionsforums und Leiter der Referendum-Arbeitskommission, erklärte kürzlich Journalisten, für ihn stünde eine Absetzung des Referendums nicht zur Diskussion. Nikolaj Rjabow, sein Stellvertreter am „Runden Tisch“ und gleichzeitig einer der Stellvertreter des Parlamentspräsidenten Chasbulatow, erklärte am gleichen Tage dagegen das Referendum für „gefährlich“.

Hunderten von Deputierten der Bewegung „Demokratisches Rußland“ versicherte Sergej Filatow, der Leiter der Administration des Präsidenten, am Wochenende die ungebeugte Haltung Jelzins: „Der Präsident beharrt auf der Position des Referendums, das Problem der Form der Staatsmacht ist für ihn von allerhöchster Bedeutung: ob Rußland eine präsidiale oder eine parlamentarische Republik werden soll.“ Und in Anspielung auf einige Prügelszenen während der letzten Tagungsperiode des „Rates der Volksdeputierten“ fügte er hinzu: „Wenn man die Radaubrüder nicht während der Sitzungen zur Raison bringen kann, dann muß dies eben das Volk mit seinem Referendum tun.“ Die zahlreichen Parteien und Verbände des „Demokratischen Rußland“ beteuerten in seltener Einmütigkeit, schon jetzt Vorkehrungen für einen geordneten Ablauf der Abstimmung und möglichst für den Rücktritt Chasbulatows sorgen zu wollen.

Ob allerdings nicht doch noch Jelzin selbst — wie es die Nesawisimaja Gazeta ausdrückte: „auf Bitten der Werktätigen“ — einen Rückzieher machen wird, dies sollte sich am Dienstag auf dem Kongreß der Vertreter der territorialen Einheiten Rußlands entscheiden, dem Gipfeltreffen der innerhalb Rußlands gelegenen Ex- UdSSR-Autonomien. Einige von ihnen zeigen in der Hoffnung auf Belohnung strikte Loyalität gegenüber dem Präsidenten. So ist zum Beispiel in Tschuwaschien schon alles für das Referendum bereit. Wichtiger aber wird für Jelzin die Haltung der Aufmüpfigen: Baschkorostan, Karelien, Sacha (Jakutien), Tatarstan. Sie weisen dem neuen Konstitutionsentwurf zahlreiche Mängel nach, z.B., daß ihnen darin nicht ausdrücklich staatlicher Status eingeräumt wird. Verschiedene Redner dieser Territorien stellten klar, daß für sie ein Verfassungsreferendum nicht in Frage käme, solange nicht der Rahmen der neuen Verfassung durch einen Unionsvertrag zwischen den einzelnen Territorien Rußlands abgesteckt sei. Und der Präsident des ölreichen Tatarstan deutete sogar an, daß er bei sich zu Hause das Referendum ganz verbieten könnte: „Wir haben schon Deputierte, einen Obersten Sowjet und einen Präsidenten.“

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