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Emir im Land von Uncle Sam

Emir Kusturicas neuer Film „Arizona Dream“ eröffnet den offiziellen Wettbewerb der Berlinale  ■ Von Olivier de Bruyn

„Nicht den Realismus, sondern das reale Leben suche ich im Film.“ (Emir Kusturica)

Das Hauptinteresse von „Arizona Dream“ liegt in der Kollision zweier scheinbar unvereinbarer Universen: der „kusturicianischen“ Sphäre und der mythischen Bildwelt Amerikas. Die unwahrscheinliche Integration des Axel Blackmar in eine Gemeinschaft ist in der Tat eine Metapher für die Begegnung der irreduziblen „Heimat“ eines Filmemachers mit einer Welt, die neu für ihn ist und die er zunächst einmal mit seinem Lieblings- und Zerrspiegel: dem Kino demontieren will.

Von mangelhaftem Drehbuch oder Geschmacksverirrungen zu sprechen wäre meiner Meinung nach bei „Arizona Dream“ ein Irrtum. Natürlich enthebt die Ambition auf ein „totales“ Kino, in dem ein magischer Blick die Wirklichkeit streift und befleckt, nicht von der kritischen Arbeit, die darin besteht, auf diesen oder jenen bedeutsamen Fehler hinzuweisen — denn solche Fehler zeigen manchmal die wirre Absicht oder das falsche Kalkül an und können ein Kunstwerk unglaubwürdig machen. Die Struktur von „Arizona Dream“ aber spielt mit den Brüchen und Ungleichgewichten als treibenden Elementen, die im Sinne einer aktiven Reflexion geplant und eingearbeitet sind. Denn Thema des Films ist auch eine unauffindbar gewordene Kohärenz.

Kusturicas Film bezieht seinen Atem gerade aus der offen problematischen Vielfalt seiner Elemente — darin besteht sein heute geradezu unvergleichlicher Ehrgeiz. Das bringt „tote Zeiten“, ja einige Längen mit sich, die der Zuschauer aber letztlich braucht: Er muß sich im Wuchern der Bilder orientieren und zugleich an der Zusammensetzung der polyphonen Erzählung aktiv mitwirken, um darin seinen eigenen Ort zu finden.

Die gerade Linie, den „guten Geschmack“ eines fehlerlosen Gleichgewichts versucht Kusturica zu vermeiden. Freilich, die anarchische Unordnung des Films ist das Gegenteil jener moralischen und ästhetischen Nivellierung, die hier und da mit „Vitalität“ verwechselt wird. Die Störungen in der Erzählstruktur sind der Reflex einer entwirklichenden Wahrnehmung, die die Außenwelt demontiert und ihrem Standpunkt unterwirft. „Arizona Dream“ ist vor allem eine Sache des Blicks auf die Welt.

Diese Welt sind die Vereinigten Staaten. Der Kusturica-Stil (eine Mischung aus Barock und Pomp, Surrealismus und Kitsch, Akkordeon und Rock'n' Roll) bleibt weiterhin mit den Mythen seiner Altvorderen verbunden (dem Glauben an eine Magie, die die Realität bezähmen könnte), stößt hier aber auf die nebelhafte Zeichenwelt eines Traums — des amerikanischen Traums — der in Arizona, dem Ort der Handlung, angesiedelt wird.

Erstaunlich und mysteriös ist an „Arizona Dream“, daß man neben dem fest verankerten europäischen Background (Tarkowski) eine Zeitgenossenschaft mit den Themen einiger der wichtigsten heutigen Filmemacher Amerikas feststellt: die Perversion der Genres, die Frage der Manipulation und vor allem die von einer subjektiven Bildwelt kontaminierte Realität.

Wie bei Lynch, den Coen-Brüdern und — auf ganz andere Weise — bei Eastwood verarbeitet dieser Blick die Vergangenheit, vor allem die des Kinos. In „Arizona Dream“ wird der ausgeträumte amerikanische Traum von Jerry Lewis verkörpert (als Leo, Axels Onkel) und parallell dazu, aber in geringerem Grade, von Faye Dunaway (als Elaine Stalker). Natürlich geht es hier nicht um cineastische Nostalgie, sondern um einen Blick, dessen Luzidität niemals die zugrundeliegende spielerische Disposition in Frage stellt.

Durch seine Rückkehr von New York (aus einem Scorsese-Universum, das Kusturica mit großem Spaß parodiert) zu den Stätten seiner Kindheit in Arizona wird Axel Blackmar (Johnny Depp aus „Edward mit den Scherenhänden“ wirft einen zugleich naiven und tiefbekümmerten Blick auf die Welt) mit zwei widersprüchlichen Sehnsüchten konfrontiert: Leo stellt als Cadillac-Verkäufer den Willen zum materiellen Erfolg und damit einen der fundamentalen amerikanischen Mythen dar. Elaine ist die Metapher für den Traumanteil daran — für die existentielle Lust davonzufliegen (ein immer wiederkehrendes Thema im Film), in der sich eine Kindheitsfantasie mit Fluchtwünschen angesichts einer unerträglichen Wirklichkeit (eine Mordgeschichte) verbindet.

Diese erdrückende Dichotomie wird von Kusturica natürlich nicht ausgespielt. Die wahre Frage ist die nach dem Entstehen der amerikanischen Grundwerte. Sie scheint mir schon im Casting angedeutet zu sein. Leo ist nur mehr der blasse Reflex des ewig sieghaften Selfmademans, Jerry Lewis löst parallell dazu nicht mehr die einstige Heiterkeit aus. Er steht neben seiner traditionellen Rolle. Eine der schönsten Szenen des Films — die Projektion eines Super-8 Films, in dem er inmitten von Kindern zu sehen ist — bringt diese Differenz zur Geltung. In diesem Film im Film überbietet sich Jerry als Spaßvogel. Als er sich den Film ansieht, ist Lewis-Leo zu Tränen gerührt. Der Traum ist zuende, er glaubt nicht mehr daran: „Die Leute kaufen keine großen Autos mehr“, wird er später feststellen. Der komische Effekt, den er als Schauspieler in dem Film macht, wirkt eher ein bißchen peinlich.

Elaine, hysterische Mutter, die nichts mehr unter Kontrolle hat, stellt das zentrale Element eines mit Mühe gebändigten häuslichen Alptraums dar, den man als „Anti- Sitcom“ definieren könnte. Ihr Haus in Arizona ist kein gemütliches Home mehr, sondern eine groteske Bühne, Reflex einer aufgewühlten Innerlichkeit. Faye Dunaways Darstellung der Elaine ist von bestürzender Überzeugungskraft. Sie treibt das Bild des gestörten Gleichgewichts bis hinter die letzten Barrikaden, bis zum Wahnsinn und zur Karikatur.

Wie Lynch benutzt Kusturica manchmal archetypische Situationen, die man tausendmal im Kino gesehen hat und verdreht sie von innen, so daß die Rückseite des Dekors sichtbar wird. Die Realität ahmt die Traummechanismen nach und scheint letztlich nicht weniger befremdlich als die eigentlichen Traumszenen. Der Hintergrund simuliert die Normalität (Autoverkauf, Familienmahlzeiten), aber das Treatment verweigert sich jedem Naturalismus. Die „Irrealität“ wird zur Norm, sie gibt ein getreueres Zeugnis von der inneren Wahrheit der Seelen, die ihrer Natur nach nicht zu umschreiben ist. Da der beruhigende Mythos von Heim und Familie von vornherein zerstört ist (wie bei Gus van Sant oder Hartley sind alle Personen irgendwie verwaist), bleiben nur Fantasiebilder, die verzweifelt versuchen, die Lücken zu schließen.

Kusturica spielt nicht mit Abstufungen zwischen Realem und Irrealem, sondern versetzt das eine mit dem anderen. Die Realität ist in „Arizona Dream“ eine problematische Sache, denn ein schlagkräftiges Bild von der Realität muß nach Ansicht des Regisseurs einen Teil des Fantastischen einschließen, das es durchkreuzt.

Es ist bezeichnend, daß das wirkliche Leben heute nur noch durch ein Prisma, eine fantasmatische Vision einzufangen ist, die ein zwar metaphorisches, aber allein noch plausibles Bild erzeugt. Ob im Mißtrauen vor Erzählung (Coen, Lynch) oder im frontalen Angehen der Mythen und ihrer Verkörperungen (Eastwood): zeitgenössische Fiktion entsteht nur, indem sie ihre eigenen Fundamente infragestellt. Seinen Höhepunkt erreicht dieses Verfahren in „Arizona Dream“ mit dem Auftritt von Paul, einer Zombie-Persönlichkeit, die nur durch ihre Identifikation mit Kinolegenden existiert (Grant, Pacino, De Niro). Angesichts von Axel, der (wie Mike in „My Own Private Idaho“) unter epileptischen Anfällen leidet, lebt Paul in Wachträumen, stürzt sich in mythische Bilder, die an die Stelle einer längst nicht so überzeugend inszenierten Realität treten. Gleich in der ersten Einstellung, die er im Film hat, sehen wir Paul vor dem „Paten, 2. Teil“ einschlafen — unterwegs zu schönen Träumen. Wie alle Personen aus „Arizona Dream“ und den anderen hier genannten Filmen bleibt er allein mit seinen obsessionellen inneren Bildern.

Es gibt in „Arizona Dream“ eine wilde und letztlich naive Entschlossenheit, eine Fabel zu konstruieren, die das Triviale und Groteske mit dem Erhabenen und Mystischen, den Realismus mit Magie verbindet. Ein auseinandergesprengter Film, in dem die Fluchtlinien keine Auswege oder bloß formale Segmente sind, sondern die vergrößerten Reflexe einer Innerlichkeit, die bei Kusturica wie bei seinen amerikanischen Zeitgenossen die Welt des Scheins — die Welt der Fiktion und der Genres, derer sie sich bedient — an sich reißt und mißhandelt.

Dieser Film mit seiner wuchernden Fantasie und einer im Zeitalter der Verflachung der Bilder fast provokativen Freiheit braut ein paar Ideen zusammen, die dazu beitragen, die Macht des Mediums Kino zu erhalten. Er ist ein Glück für all jene, die an die täuschende Kraft der Imagination glauben (der Abflug der unwahrscheinlichen „Flugmaschine“ besiegelt den Zwischensieg des Traums), aber er ist nicht einförmig. Er demontiert die Kompliziertheit der heutigen Welt, indem er sich ihre Wahrnehmung zum Problem macht.

Eine gute Nachricht: Die Begegnung eines europäischen Autors mit den Vereinigten Staaten trägt zuweilen doch noch Früchte. Hier hat sie zu einem selten schönen Film geführt. Enjoy Yourselves.

Aus dem Französischen von Thierry Chervel

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Positif.

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