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„Befürchtungen der EG könnten sich bewahrheiten“

■ Interview mit Helmut Wienert, Leiter der Forschungsgruppe Eisen und Stahl beim Rhein.-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), zur Stahlkrise

taz: Herr Wienert, die Stahlindustriellen in Europa reden von einer Überkapazitätskrise. Danach gibt es 30 bis 35 Millionen Jahrestonnen Produktionskapazität zuviel. Das RWI hat demgegenüber noch Ende letzten Jahres von einer Konjunkturkrise gesprochen. Gibt es Überkapazitäten, oder wird sich das Problem beim Anziehen der Konjunktur erledigen?

Helmut Wienert: Überkapazitäten lassen sich nur definieren, wenn man die aktuellen Absatzmöglichkeiten mit dem mittelfristig erwartbaren Absatz vergleicht. Man muß sich also eine Vorstellung davon verschaffen, was auf mittlere Sicht absetzbar ist. Über die zugrundeliegenden Annahmen läßt sich immer streiten. Das gilt auch für die Kapazitätsangaben. Wir haben die Spitzenerzeugungsmengen der besten zwei bis drei Monate eines Jahres genommen und das als Vollauslastung definiert. Für Westdeutschland waren die besten Monate in den Jahren 1988/89 etwa gut für ein Jahresniveau von 42,5 Millionen Tonnen. Gemessen daran liegt das aktuelle Niveau mit 31 Millionen Jahrestonnen gut ein Viertel niedriger. Diese Größenordnung ist erheblich, sie liegt aber in dem Schwankungsrahmen, den wir auch schon früher beobachtet haben. Inzwischen gehen aber täglich – etwa aus der Investitionsgüterindustrie – neue Daten ein, die eine Verschlechterung der Situation anzeigen. Ich würde deshalb nicht ausschließen, daß sich die Befürchtungen der EG-Stahlindustrie über die mittelfristigen Absatzeinbußen bewahrheiten könnten.

Die vom RWI prognostizierte Besserung zum Ende dieses Jahres wird es jetzt nicht mehr geben?

Wir haben bei unserer Prognose von Risiken und Chancen gesprochen. Die Konjunktur steht in vielen Ländern auf der Kippe. Wir gehen nach wie vor von einer Belebung im In- und Ausland in der zweiten Jahreshälfte aus. Das müßte sich nach allen Erfahrungen auch positiv auf die Stahlbranche auswirken. Die Stahlnachfrage reagiert auf kleine gesamtwirtschaftliche Schwankungen sehr stark. Bei gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten von 2,5 bis 3 Prozent geht es dem Stahl gut.

Wie viele Arbeitsplätze sind gefährdet?

Wir erwarten 1993 in der deutschen Stahlindustrie einen Arbeitsplätzeabbau von 156.000 auf 144.000. Das gilt aber nur, wenn es im zweiten Halbjahr zur konjunkturellen Belebung kommt. Bleibt die aus, stehen weitere 3- bis 5.000 Arbeitsplätze zur Disposition.

Gewerkschafter und SPD-Politiker sagen, die jetzige Stahlkrise sei gefährlicher als je zuvor. Ist das Schwarzmalerei?

Ich würde die Situation für die nächsten zwei bis drei Jahre als offen beschreiben. Der gegenwärtige Produktions- und Preiseinbruch läßt sich ohne weiteres mit der Situation während der letzten großen Stahlkrisen 1975 oder 1982 vergleichen. Der derzeitige Handelskonflikt mit den USA und zusätzliche Importe aus osteuropäischen Ländern verschärfen allerdings die Lage.

Mengenmäßig spielen doch die sogenannten Billigimporte aus dem Osten kaum eine Rolle. Wird da nicht ein neuer Sündenbock produziert?

Es handelt sich schon um relevante Mengen. Aus Osteuropa sind im letzten Jahr zusätzlich rund 500.000 Tonnen Rohstahl – etwa eineinhalb Prozent der westdeutschen Erzeugungsmenge – nach Deutschland gekommen.

Die IG-Metall und einige Stahlindustrielle fordern die EG- Kommission auf, jetzt die „manifeste Krise“ nach Artikel 58 des Montanvertrages auszurufen. Käme es dazu, würden die Produktionsmengen und Preise für jedes Werk in Europa behördlich festgelegt. Ist das ein sinnvoller Weg?

Damit wäre nicht viel gewonnen. Der Stahlmarkt leidet darunter, daß der „Marktaustrittsmechanismus“ nicht funktioniert. Das heißt, die Unternehmen mit den schlechtesten Parametern scheiden nicht durch Konkurs aus dem Markt aus – dieser normale Wettbewerbsprozeß wird im Kern durch Subventionen verhindert. Ein Produktionsquotensystem schreibt vorhandene Strukturen fest; die guten und die schlechten Unternehmen werden praktisch gleichgestellt. Ökonomisch ist das ziemlicher Unsinn. Mit den Produktionsquoten werden gleichzeitig Mindestpreise festgelegt. Das verhindert die Restrukturierung, denn es gibt für die Unternehmen keinen Anreiz, aktiv zu werden. Jetzt wird der Plan vorgelegt, Produktionsrechte handelbar zu machen. Für Stillegungen bekommt man dann einen Preis.

Wie im Agrarbereich, wo der Milchbauer für jede abgeschaffte Kuh eine Prämie kassiert?

Vom Prinzip her schon. Das wurde im Stahlbereich ja schon 1982 diskutiert. Um hinreichende Preise für die Stillegungskosten zu bekommen, müßten dem Käufer die Produktionsrechte für sehr lange Zeit eingeräumt werden. Gleichzeitig müßte gegen die Anbieter aus Nicht-EG-Ländern ein Außenschutz errichtet werden. Solche politischen Marktinterventionen hätten also höchst problematische Folgen.

Die Standorte allein dem Marktprozeß zu überlassen böte auch erheblichen Konfliktstoff. Sollte etwa Eisenhüttenstadt seine Stahlbasis verlieren, stünde eine ganze Region vor der Verödung. Wäre Intervention da nicht das kleinere Übel?

Die Stahlindustrie ist in keinem hochindustrialisierten Land ein großer Beschäftigungsträger. Strukturell bedingt wird die Beschäftigung hier seit Jahren abgebaut. Mit den vorhandenen Strukturen kann man in Eisenhüttenstadt zweifelsohne keine wettbewerbsfähige Produktion aufrechterhalten. Finanzierungs- und Überbrückungshilfen sind dann sinnvoll, wenn damit dauerhaft wettbewerbsfähige Produktionsapparate entstehen. Wenn man aber versucht, alte Strukturen gegen die Marktkräfte zu erhalten, verschiebt man nur das Problem. Am Ende steht dann, wie etwa in England, Frankreich, Italien, die viel problematischere Radikalkur.

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