: Aus welchem Lager kommt das Land
■ Die ganze Woche wurde im Literaturhaus "Öffentliches Denken und Nachdenken" in Vorträgen und Podien annonciert / Ein Resumee
»Öffentliches Denken und Nachdenken« in Vorträgen und Podien annonciert/Ein Resumée
Die Skandälchen des Literaturbetriebes sind vergessen, es muß kein Streit mehr provoziert werden, damit keine Langeweile aufkommt. Es ging die ganze Woche um Grundlegendes, das gründlich debattiert sein will. Wie bei allen Debatten gibt es Wiederholungen des schon einmal Gehörten und Gesagten. Doch worum geht es eigentlich? Das „öffentliche Denken und Nachdenken“ während dieser ganzen Diskussion ist deshalb so schwer auf einen Nenner zu bringen, weil es um umfassende, epochale Veränderungen ging. So drehte es sich letztlich doch immer um die gleiche Frage: Aus welchem Lager kommt das Land?
Zum Auftakt der Reihe diskutierten am vergangenen Dienstag Gabriele von Arnim und Freimut Duve. Dabei ging es auch um die Sprache. Denn, so die Journalistin von Arnim, „wie wir beschreiben, was bei uns geschieht, hat Auswirkungen auf das Geschehen.“ Die „Banalisierung der Vergangenheit“ einerseits, die Aufwertung des Rassismus und Rechtsradikalismus der Gegenwart durch Gleichsetzungen mit dem der Weimarer Republik andererseits waren ihre Hauptkritikpunkte.
Vielleicht am nächsten kam dem Grundproblem die Hamburger Schriftstellerin Jutta Heinrich in ihrem Vortrag am Tag darauf. Das „deutsche Wesen“ habe eine „uneingestandene Sehnsucht nach Erkrankung, Pflegschaft, seelischen Extremitäten und Erlösung“, und erst die „reale Erkrankung“ würde deutlich machen, „daß es den deutschen Menschen so herzzerreißend schwerfällt, seelisch-geistige Vorgänge als zum normalen Leben gehörig zu begreifen“. Doch auch Jutta Heinrich bleibt bei der Klage, der Mahnung und der Reflexion dessen, was geschieht.
Wie unendlich schwer es ist, tatsächlich Neubestimmungen vorzunehmen, Konflikte, wenn nicht zu lösen, so doch in ihrem Kern zu begreifen und zu begrenzen, wurde vorgestern abend deutlich. Auf dem Podium saßen der slowenische Schriftsteller Drago Jancar, die Philologin Swetlana Slapsak aus Serbien, der serbische Schriftsteller Aleksandar Tisma und der Kosmopolit Milo Dor. Die Kämpfe auf dem Balkan sind zum Symbol der Veränderungen in Mitteleuropa und auch in Deutschland geworden, und so herrschte gespannte Aufmerksamkeit unter den Zuhörern.
Die innere Demarkationslinie des Zerwürfnisses „Heimat“ stand im Zentrum des Abends. Es waren nur zaghafte Versuche, einen Konsens herzustellen, doch bei der Diskussion wird deutlich, wie groß der Haß sein muß, obwohl man unter sich ist, wie groß die Angst, nicht noch mehr Gräben aufzureißen. „Es gibt wenig Hoffnung auf ein Ende des sinnlosesten aller Kriege“, sagte Milo Dor. So referierten die Teilnehmer ihre Vorstellungen von Nation, Nationalität und Nationalgefühl. Am Ende schlug jemand vor, ein Gedicht zu lesen, „vielleicht ist ein Hauch der Poesie stärker als der Schmauch der Gewehre“. Damit ist eigentlich alles über diesen Abend gesagt.
Eine Frage sei hier noch gestellt, die gerade wegen des dringend gebotenen „öffentlichen Denkens und Nachdenkens“ erlaubt sein muß. Warum finden derartige Veranstaltungen nicht in großer öffentlicher Runde an der Universität, in den Deichtorhallen oder im Rathaus statt? Es sind Fragen nach der politischen und gesellschaftlichen Gestaltung unseres Gemeinwesens, Herr Bürgermeister, Frau Kultursenatorin, Herr Innensenator, die hier auf einem Niveau diskutiert wurden, das man anderswo bisher durchaus vermissen mußte, und dem man ein größeres Publikum wünscht. Letztlich kann es nicht Aufgabe eines Literaturhauses sein, derartiges zu thematisieren.
Jenseits der sicher notwendigen rationalen Erklärungsformeln und Begründungsformen, die im Literaturhaus zur Debatte standen und aus denen sich Handlungsmuster für unsere Gegenwart ableiten lassen, evoziert Literatur die Freiheit, eine Welt zu finden. Und das bleiben uns Literaturhaus und Literaturzentrum in diesen Tagen weitgehend schuldig.
Abgesehen vielleicht von den unfreiwilligen Ausflügen in die poetischen Niederungen eines keineswegs witzig gemeinten Dialogs: „Warum“, fragt eine Zuhörerin an einem Abend, „hat der Liebe Gott die Männer stärker gemacht als die Frauen?“ Und eine andere Zuhörerin antwortet: „Der Dinosaurier ist ja auch ein gewaltiges Tier gewesen und letztlich doch ausgestorben.“ Man darf also hoffen. Jürgen Abel
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