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Anpassung ohne Halt

■ „Wendewut“ – Choreographisches Theater von Johann Kresnik in Bremen

Der Zuschauerraum ist geteilt durch eine dünne Bespannung, und irgendwann teilt die Mauer auch den Bühnenraum: in goldglitzernden Trachtenanzügen amüsieren sich die einen. Die anderen, die Grauen, schälen Kartoffeln. Freudig schnappen sie die goldenen Flitterklamotten, die über die Mauer fliegen, und als sie verschwindet, feiern sie goldgraue Begrüßung, herzlich, dann hektisch, dann immer schneller, unter gellendem Gekreisch von Trillerpfeifen, bis zur Erschöpfung. „Alles war gewonnen, alles war verloren, als die Mauer fiel“ – die Anpassung verliere ihren Halt, schrieb Günter Gaus, dessen Erzählung „Wendewut“ Johann Kresnik als Vorlage für seine neue Produktion diente. Der Verlust der Mauer, konzentrierter Mittelpunkt des Stücks, teilt nicht nur die Menschen neu auf, er teilt auch die Geschichte der „Mitläuferin“, der Frau im grauen Kostüm mit einer roten Nelke in ein Vor- und ein Nachher.

Kresniks Blick zurück in die alte DDR ist bitter und belustigt zugleich. Nicht die Banane, die Kartoffel macht er zum deutsch-östlichen Symbol, die fleißige Feldfrucht. Bebrillte Tänzer und Tänzerinnen in ordentlichen grauen Anzügen und Kostümen schleppen sie auf die Bühne, schütten sie aus und sammeln sie wieder ein. Juchzend balancieren sie auf den Kartoffeln, und wenn sie einander bewerfen, denkt man an Steinigung – in ihrer harmlosen Variante, die es nicht gibt. Ebensowenig harmlos ist das Spiel mit dem bösen Wolf aus den Märchen, die der Choreograph Kresnik so gut kennt und deren Bilder sich in all seine Produktionen einschleichen wie Déjà-vus. Einer trägt immer den Wolfskopf, und mitunter zwingt er ihn einem anderen auf. Wer diesen Wolf im grauen Anzug schleppen muß, trägt schwer an ihm, wird ihn nicht mehr los. Der Wolf ist immer dabei, wenn Menschen von ihresgleichen an altmodischen Nähmaschinen in Plastikfolien eingenäht werden oder wenn sich die Graugekleideten im Tanz ihrer Begegnung gegenseitig zu Boden stoßen und wieder hochziehen. Für einen bösen, magischen Moment zeigt die ganze Gruppe der Tänzer ein Wolfsgesicht.

Vor allem in den großen Gruppenchoreographien entzündet sich Johann Kresniks Fähigkeit, Bilder zu erfinden für den Schrecken hinter den bekannten Bildern, an diesem Stoff der Vorgeschichte des neuen Deutschland. Ist die Mauer fort, verschiebt sich der Zugang zu diesem Land fast unmerklich auf die Musik, zuungunsten der Bilder: Serge Webers heftige und dichte Klanggewitter im Wechsel mit Schubert-Liedern treten in deutliche Spannung zum kleinen Tannenwald mit den bunten Lichtern, und wenn die romantische Sehnsuchtsstimmung flanierender Paare umkippt in Heinos Marsch vom blau-blau-blauen Enzian, dann wird die Musik zum treibenden Element.

Heino wird zum Skinhead kahlrasiert, und die Faschisten sind am schwarzen Lederarm zu erkennen: die Mauer ist weg, und die Glitzermenschen fressen und kotzen. Kresniks Einfälle speisen sich aus früheren Produktionen. Das wäre nicht schlimm, nur: die Frage, was denn nun gewonnen und was verloren ist, stellt er nicht. Im wilden Wirbel aufeinandergehäufter Zutaten, die die Bilder offenbar deutlicher machen sollen, geht der Blick auf das, was geschieht, wenn „Anpassung ihren Halt verliert“, ins Leere. Die Protagonistin, die „Mitläuferin“, wird jetzt abgestempelt. Ihre Haut zieren Symbole und Schriftzüge des DDR- Regimes. Am Ende ist sie umgerüstet zum West-Modell, ausstaffiert mit falschem Busen und Hintern, als ob es in der DDR ein Gegenbild gegeben habe.

Schon zuvor, und das ist der entscheidende Mangel dieses Tanzabends, blieb sie ungenau, kenntlich nur als grauer Teil des Kartoffellandes und während der Begegnung mit dem West-Chronisten, der seinen Beobachterposten auf dem Aussichtsturm für sie verläßt. Immer wieder wirbt er um sie, zieht ihr eine Haut vom Gesicht, befreit sie aus ihrer Strumpfhose, in der sie sich verkriecht, immer wieder gleitet sie zurück in Abwehr und Distanz. Am Ende trägt er sie für einen Augenblick wie ein Kind und hüllt ihren abgestempelten Leib in sein Hemd. Seltene, zu seltene, anrührende Momente – die Frau in der Sicht des Chronisten, die abstrakt-scheue Ostfrau, beschrieben vom „ständigen Vertreter“ der BRD.

Diese Konstruktion bot der Phantasie des Choreographen zu wenig Stoff, zu wenig Widersprüchliches, als daß sie eigenes Gewicht und Leben erlangt hätte, und selbst eine so großartige Tänzerin wie Amy Coleman konnte das Denkgebilde „Mitläuferin“ nicht befreien. Klaus Pohls „Karate-Billy“ und Thomas Braschs „Rotter“ grüßen aus sehr weiter Ferne, und anders als in Kresniks großen Entdeckungsreisen zu Sylvia Plath, Ulrike Meinhof oder Frida Kahlo geht auch die Doppelung der Hauptperson durch Alter Egos diesmal nicht auf. Die Mitläuferin und ihre aggressive Freundin sind sich weder nah noch fern genug, um sich anders als beliebig zu begegnen.

Das Stück gerät zur tänzerischen Warnung zum Zeitgeschehen, legitim sicherlich für einen Choreographen, der sich als politischen Menschen begreift und Theater als moralische Anstalt. Wenn aber Politik und Geschichte zur Abstraktion gerinnen, bedeutet das den Verzicht – oder das Unvermögen –, diesen einen Menschen, diese Mitläuferin ohne Namen durch die Kunst zum Leben zu erwecken, und damit verliert Kreniks Tanztheater die ihm mögliche Genauigkeit und Intensität. Lore Kleinert

Johann Kresniks „Wendewut“ im Schauspielhaus Bremen. Choreographie: Johann Kresnik, Musik: Serge Weber, Ausstattung: Penelope Wehrli. Mit Amy Coleman, Jean Chaize und Joachim Siska.

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