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Es ist jemand faul im Staate Dänemark

Berlinale 1993: Versuch über das Mißlingen. Das Symbolische läßt sich nicht filmen.  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Das Mißlingen ist, im Kontext der Filmproduktion und —regie, noch nicht einmal das Gegenteil des Gelingens, vielmehr ein Stolpern auf einer Schwelle, die, zugegeben, breit ist und sich unberechenbar wölbt oder spaltet. Man muß das Geld bekommen, die richtigen Leute, das richtige Licht. In Europa ist das ohne den Staat kaum zu machen. Das Amerikanische an amerikanischen Filmen ist, daß sie funktionieren, das Europäische an europäischen Filmen ist, daß sie immer noch dabei sind, sich zu lösen von älteren oder konkurrierenden Sparten, der Literatur, dem Theater, der Oper.

Europäer lieben die Nähe zu anderen Genres, sie langweilen sich freiwillig beim Sprech-Film von Straub/Huillet und sie lieben Jarmusch, weil er sich bei der Fotografie Robert Franks bedient. Und wenn ein Amerikaner „tief“ sein will (also europäisch), probiert er sich eben am Verschnitt benachbarter Genres. Jon Jost, zum Beispiel, mit seinem „The Bed You Sleep In“: einerseits minutenlange Einstellungen von Garageneinfahrten, andererseits das Laientheater mit den Schauspielern. Ohne Zweifel glaubt der hybride Regisseur, daß er das Wesen der Dinge erblicke. Das kann auch sein, sie blicken aber nicht zurück.

Ein solchermaßen nicht gewolltes, aber festlich zelebriertes Mißlingen macht einen böse, weil es vorgibt, mit Erwartungen spielen zu können. Da hat sich jemand auf der Schwelle postiert und ruft: Ich mache mit jemandes Geld einen Film, und Ihr könnt nichts dagegen tun! Wirklich erheiternd ist dagegen, Filmschaffenden zuzusehen, wie sie sich auf der Schwelle vor dem Gelingen bewegen und glauben, sich im Inneren des Mediums zu befinden. Da ist der ganze Apparat in Bewegung: und man sieht es. Deshalb sind B-Movies so fesselnd.

Eine spezielle Sparte sind B- Movies, die als besonders künstlerisch ausgegeben werden, so wie der Wettbewerbsfilm „Der Liebesschmerz“ (Kaerlighedens Smerte“ von Nils Malmros). Es braucht nur Sekunden, um den Abgrund an Naivität zu ermessen, der sich mit einem solchen Zweistundenepos auftut. Ein Lehrer, Sören, in seinem Haus. Er hängt einen Rahmen an die Wand. Es klingelt. Er dreht den Kopf, um zu zeigen, daß er jemanden spielt, der hört, daß es klingelt. Dann dreht er sich um, um zur Tür zu gehen, Schnitt.

Es ist gar nicht einmal die schlechte Personenführung, die dem Film zum Prachtexemplar des Mißlungenen stempelt. Man sieht es auch in einem gewöhnlichen stillen „frame“: Da wird Sörens Wohnzimmer nicht eigentlich gezeigt, sondern dargeboten. Die Matisseplakate müssen ganz drauf sein, um zu betonen, daß Sören einen guten Geschmack hat. Wer hier die Kamera gemacht hat (Jan Weincke) weiß nichts, aber auch gar nichts von den Listen des Raums, dem Verhältnis von menschlichen Körpern zu einer wie auch immer schlichten oder alltäglichen Architektur.

Was Jon Jost maßlos überstrapaziert: das Ambiente zu verhexen, um es als Last an seine Figuren zurückzugeben, gibt es ja in jedem gewöhnlichen Spielfilm als Mittel der Erzählung: Wir sehen einen beliebigen Ort und wissen, daß die Protagonisten dort gleich in Erscheinung treten. Die Kunst besteht darin, den Ort so zu filmen, daß er dann doch nicht als beliebiger, sondern als spezifischer Ort erscheint. In dem Moment, wo die Figuren auftreten, nehmen sie die Spezifika des Ortes auf wie Bluejeans Tinte. Im „Liebesschmerz“ gelingt es nicht ein einziges Mal, mit oder ohne Matisse. Die Figuren leben im Ikea-Katalog. Was sich übrigens auf die Figuren nicht überträgt. Die Darsteller bringen etwas Privates mit in den Film, das sie nie abstreifen.

Vonwegen abstreifen: Kirsten ist eine junge Erwachsene, die intellektuell auf dem Stand einer 13jährigen stehen geblieben ist. In der zweiten Stunde des Films ist sie bei Sören eingezogen. Sie will ihn verführen, und sie versucht es mit der ihr eigenen Lustigkeit. Noch im Slip wirft sie sich aufs Bett, die Kamera schaut vom Kopf her in der Aufsicht auf sie herab; und dann pellt sie sich das weiße Höschen über den Hintern, lacht und macht Fickbewegungen. Es ist die sexuellste Szene, die ich im Kino je gesehen habe (nämlich die privateste); erotisch ist das — „natürlich“ — nicht.

Es ist wohl der Dingbezug, der darüber entscheidet, ob ein Film über die Schwelle des Mißlingens in jenen Raum vordringt, in dem ein Gelingen überhaupt erst möglich wird. Jedenfalls liegt hier die Grenze vom Film im allgemeinen zum Kino. In soap operas, zum Beispiel, sind miserable Beleuchtung, die Einfältigkeit der Kameraführung und der gehetzte Schnitt nichts, was als „mißlungen“ zu deuten wäre; die Serien sind ganz literarische Vorstellungen von Abläufen, die eher wie Comix zu lesen sind. Im Raum- und Dingbezug liegt das Wagnis des Kinos. Das Kino ist, weil die Mittel so schwer zu beschaffen sind und zuviele Schicksale ernsthaft berührt, etwas von vornherein Kollektives. Wie das Kollektive funktioniert, muß für jeden Film neu erfunden werden. Es ist wie mit Plätzen und Stadtteilen, die neu gebaut werden: wo technokratisch gedacht wird, ist das Kollektiv verloren. Ganz gleich, ob ihm die Rolle des Subjekts der Geschichte zugedacht ist oder nicht. Sören und Kirsten können einem gleichgültig sein, weil dieses „Dänemark“, in dem jemand zu faul war, einen Film zu denken, gleichgültig bleibt.

Die Schwelle vom Film zum Kino ist für den Dokumentarfilm, Essay oder die Mischformen im Prinzip dieselbe. Wer die Kamera für die Billigfassung des Auges hält, ist verloren. Das wurde über das Maß des Wünschbaren deutlich an einem Film, der „Requiem“ heißt und am Montag im Zoopalast zu sehen und zu hören war. Es ist eine Reise zu europäischen Gedenkstätten, Soldatenfriedhöfen vor allem. Das handgemalte Grabkreuz eines „SS-Gen.“ hatte in diesem — fast einstündigen — Film genauso Platz wie die melancholischen (und katholischen) Bilder der Toten, die (offenbar im KZ Mauthausen) von den italienischen Verwandten der Toten in die Mauern der Gedenkstätte eingelegt worden sind. Aber es war nicht der unglaubliche Bitburg-Gestus, der den Film zum Protagonisten des Mißlingens macht (verquaste Ideologie ist kein Kriterium des Mißlingens), sondern die Kameraführung, der Schnitt und die Musikregie in diesem wortlosen Film. Die Kamera rast über den mit weißen Kreuzen militärisch bestückten Rasen, schnellt zu imposanten oder bedenklichen Menschenskulpturen hoch, und für je dramatischer die Autoren des Films das Gesehene halten, desto lauter und beizeiten auch schriller tönt die Musik. Dazwischen geschnitten: kirchenkalendermäßige Blicke auf Pflanzen und ihre Blüten. Ein wahlloses, hektisches „Gedenken“ orientiert am Klimax. Die Besuche der Stätten werden zunehmend kürzer. Mit den Tieraufnahmen vor allem schlug das Epos um in unfreiwilligen Humor: eine Ameise unterwegs auf einem Grabstein, eine Kuh, die sich erhebt, und eine Taube, die vom Helm einer Heldenfigur abhebt. Wo jeglicher selbstironischer Verweis fehlt, schlägt das jeweil unfreiwilligste Element um in schreiende Komik; die allerdings selbst für den Lachenden noch verletzlich ist. Mit Lacan gesprochen (gilt gleichermaßen für die gebärende Kirsten oder die Gräber des WK II): Das Symbolische läßt sich nicht filmen; das Imaginäre ist es, das den Film über die Schwelle hievt, hinter der das Gelingen möglich wird.

Nein, „Requiem“ war keine Abzockerreise junger schweizer Filmschaffender auf Kosten des Schweizer Kunstfonds, sondern das wirklich gutgemeinte Werk zwei alter Leutchen (Reni Mertens und Walter Marti), die in zentraleuropäischer Artigkeit gegen den Krieg sind, wie sie groteskerweise unter Buhrufen zum Besten gaben. Daß de Hadeln diesen Film ins Programm nahm und den Zuschauern, die bereit waren, sich dem Sarajewo-Film zu stellen, unterjubeln wollte, ist der Skandal des Festivals. Fast wäre die Vorstellung wegen ständiger Mißfallensäußerungen des Publikums abgebrochen worden. Aber was das Mißlingen betrifft, ist man stur in Berlin. Man hat davon noch nichts gehört.

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