: Ordnung schaffen an der grünen Grenze
An den deutschen Ostgrenzen werden Hilfspolizisten gegen Flüchtlinge angeworben/ Doch nicht die Flüchtlinge sind für Grenzbewohner das Problem, sondern unbekannte Diebesbanden ■ Aus Spreedorf Detlef Krell
Beinahe wäre es passiert. Nicht der vom übriggebliebenen Schnee verdeckte Grenzstein, sondern die rinnsaldünne Spree hat mich zaudern lassen. Noch ein kleiner Schritt, und schon hätte ich im Tschechischen gestanden. Schnell zurückgeknirscht; doch die beiden uniformierten Grenzschützer, die zwanzig Meter weiter am Bach entlang streifen, schauen sich nicht einmal um. Nur der Mann im oberen Fenster des Einfamilienhauses hat aufgepaßt: „Wo wollen Sie denn hin?“
Jochen Krebs sitzt nicht zufällig im Ausguck. „Fünf versuchte und drei vollendete Einbrüche“ mußte er in seinem Haus zur Kenntnis nehmen. Filmreifer Höhepunkt der Serie war, als Unbekannte seinen Trabant, „der war ja schon abgemeldet“, packten und über den Bach trugen. „Meine Frau war fix und fertig mit den Nerven. Da habe ich meine Arbeit im Westen aufgegeben, und seitdem wache ich über das Haus.“
Das Ehepaar Krebs wohnt in Spreedorf, einem Zipfel von Ebersbach in der Oberlausitz. Wie eine Perlenkette liegen hier die Häuser auf einem schmalen Wiesenstück, zwischen Bahndamm und Grenzbach. „Drüben“ schließt sich Filipov an, auch nur ein kleines Dorf. Die Menschen können einander in die Fenster sehen, man kennt sich und besucht einander, wie es unter Nachbarn eben so geht. Keiner bemüht sich dafür auf den langen Umweg zum nächsten Grenzübergang, der kurze Schritt über die Spree ist längst etwas Normales. „Ich habe viele Freunde drüben, da treffen wir uns mal hier und mal dort auf ein Bier“, erzählt Jochen Krebs in der Küche, wo am Fenster ein Scheinwerfer und eine Wechselsprechanlage bereitliegen. „Die Tschechen leiden unter der Kriminalität genauso wie wir“, weiß er. Auch dort werde häufig eingebrochen. Über die Täter will Jochen Krebs nicht spekulieren. „Tatsache ist, die Fluchtwege führen nach drüben“, erklärt er zögernd, „aber was hier abgelaufen ist, das hat nichts mehr mit Gelegenheitsdiebstahl zu tun. Die Brüder sind absolut gut informiert, und das geht nicht ohne deutsche Partner.“ Sechzigmal wurde seit Oktober in Spreedorf eingebrochen. „Ganze Lkw-Ladungen sind verschwunden“, doch niemand ist beim Bruch gefaßt worden.
Schon wogen die Superlative: „Dorf mit der höchsten Kriminalität in Deutschland“, zitiert Krebs die Presse. Das gängige Täterbild in Spreedorf heiße: „die Zigeuner“. Auch Flüchtlinge sehe er über die Grenze laufen, doch er schiebt ihnen nicht die Brüche unter. „Die sehen doch zu, daß sie von der Grenze wegkommen.“ Daran will er sie auch nicht hindern, „egal, wie viele es sind. Weil gegenüber diesen Menschen die Politik versagt hat. Man kann nicht vierzig Jahre lang erzählen, kommt zu uns in die Freiheit, und wenn dann plötzlich zu viele kommen, macht man einfach die Grenze dicht.“ Der Spreedörfler argumentiert, als ahnte er schon das Fazit der Budapester Migrationskonferenz: „Wenn wir uns hier abschotten, dann delegieren wir doch die Probleme nur in den Süden und Osten.“ Flüchtlinge wegfangen, dafür würde er sich nicht einspannen lassen, aber sein Haus müsse er sichern, solange der Grenzschutz dazu nicht in der Lage scheint. „Bleibt mir doch gar nichts anderes übrig. Oder wir müssen den Hof verlassen.“ Als sich die Einbrüche häuften und der Bundesgrenzschutz dennoch nur zu Stippvisiten vorbeirauschte, begannen die Spreedörfler sich selbst zu helfen. Mit den anderen Einwohnern habe er recherchiert, wohin die Beutezüge gehen, erzählt Jochen Krebs. „Wir wissen genau, wo der Umschlagplatz ist.“ Aber wohin mit dem Wissen? In Ebersbach gibt es nicht einmal einen Polizisten, und auch die tschechischen Behörden machen sich rar.
Klaus Fritz, „der vom Laden“, habe die „Bürgerwehr“ gegründet, heißt es. Um diese Mittagsstunde werkelt der Geschäftsmann an seinem Lebensmittelladen. Auf das Wort „Bürgerwehr“, das den Leuten in Spreedorf schon locker von der Zunge geht, reagiert er gereizt: „Wir haben keine Bürgerwehr.“ Punkt. Aber die Streifen mit Schreckschußpistole ... „Wir haben mit diesen Streifengängen gezeigt, daß jemand unsere Häuser bewacht.“ Man wollte so sichtbar präsent sein, daß Täter den Mut verlieren. Und wer habe heutzutage nicht alles eine Schreckschußpistole in der Tasche. Zusammenarbeit mit dem BGS habe es nicht gegeben. „Dann haben wir auf einer Bürgerversammlung unsere Petition an den Landtag und den Bundestag aufgesetzt.“ Worauf am Montag der Innenausschuß des Sächsischen Landtages, der Bundesgrenzschutz und der Landespolizeipräsident ins Dorf kamen. „Der BGS hat zugesichert, ab sofort seine Streifen zu verdoppeln“, resümiert der Ladeninhaber, aber es klingt nicht sehr überzeugt. „Noch eins“, ergänzt er, „das können Sie ruhig schreiben: Wenn das hier so weitergeht und gegen die Kriminalität nichts unternommen wird, dann brauchen die rechten Parteien für ihren Wahlkampf nichts zu tun. Das müssen endlich die Parteien, die jetzt gewählt sind, begreifen.“
Nur eine kleine Brücke führt von der Landstraße über den Bahndamm ins Dorf. Auf der böhmischen Seite holt eine ältere Frau Wasser aus der Spree. Ihr Hund kommt gleich aufgeregt herüber und beschnüffelt mich friedlich. Die Frau hält einen kleinen Plausch mit dem Nachbarn vom anderen Ufer; auf tschechisch. Alfred Golz weiß von den Ängsten der Tschechin. Auch in ihrem Haus waren schon Einbrecher. „Wir sind alle froh, daß seit Dubčeks Zeiten der Stacheldraht an dieser Grenze weg ist. Und nun das.“ Einen neuen Zaun, den wollen sie auf keinen Fall. Am Brückenkopf und auf einem Nachbargehöft sind zwei „Posten“ mit Ferngläsern aus der Deckung hervorgetreten. Alfred Golz gibt Entwarnung: „Ist kein Dieb. Ein Journalist!“
Vor etwa zweihundert Jahren stieg Räuberhauptmann Karraseck durch diese Gegend. Mit seinen Getreuen räumte er im Schutz sächsischer Wälder und böhmischer Dörfer aus so manchem Hause aus, was an Talern und Tuch nur zu erschleppen war. Böhmische Gerichtsakten nannten ihn einen „Diebstähler, Schalk und boshaften Bösewicht“, und sächsische Gerichte lochten ihn schließlich in der Festung Dresden ein. Inzwischen gilt Karraseck längst als Oberlausitzer Original, und von seinen gewitzten Beutezügen erfahren die Kleinen aus dem Bilderbuch. Karrasecks späte Genossen dagegen brauchen die grenzüberschreitende Verfolgung bisher nicht zu befürchten. Dafür werden sie wohl auch nicht in die Folklore eingehen. Doppelt so viele Grenzstreifen wie früher, das heißt nach der Rechnung von Jochen Krebs: „Erst kam den ganzen Tag niemand, jetzt kommen zwei.“ Klaus Fritz kann nur den Kopf darüber schütteln, daß der BGS mit dem Hubschrauber nach Grenzverletzern sucht. Und der Bürgermeister im benachbarten Seifhennersdorf kann sagen, daß er die Sorgen der Ebersbacher gar nicht hat. Dort liegen die Orte nicht so nah beieinander. Schwieriges Gelände für Beutezüge.
Es geht also um eine punktuelle, ziemlich genau lokalisierbare Kriminalität an der Ostgrenze. Zuständig für den 450 Kilometer langen Grenzabschnitt zwischen Sachsen und der Tschechischen Republik ist das Grenzschutzamt Pirna. Dort sitzt Polizeirat Steffen Claußner und telefoniert mit dem griechischen Fernsehen. Leiter des Grenzschutzamtes sei er nur noch nebenbei, kommentiert er ironisch den Andrang der Presse. Aber er findet es wichtig, daß die Öffentlichkeit genau hinsieht, was an der EG-Außengrenze geschieht. Zur Zeit würden seine Beamten und die des Zolls etwa 40 bis 120 illegale Grenzübertritte pro Tag feststellen. Die Tendenz, so der Grenzschützer, sei „anhaltend steigend“. Mehr als die Hälfte der „Illegalen“ seien rumänische Roma, Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsgebiet im ehemaligen Jugoslawien und aus Somalia. Die von Bundesinnenminister Seiters diagnostizierte „Gefahr für die politische Stabilität in Europa“ läuft oft völlig durchgefroren, nur notdürftig bekleidet den Bundesgrenzschützern in die Arme. „An der Grenze erleben wir tagtäglich die ganze Breite menschlichen Leids“, beschreibt der Chef die Situation seiner Beamten am Rand Europas. Und er faßt den Moralkodex des Grenzdienstes zusammen: „Für uns handelt es sich in jedem Falle um Menschen, nicht um potentielle Straftäter.“
Steffen Claußner ist zuversichtlich, daß auch die seit einigen Tagen in den Grenzgemeinden angeworbenen Hilfspolizisten dieses „Fingerspitzengefühl“ aufbringen werden. Die Seiters-Idee, an der Grenze kurzfristig auch Hilfssheriffs einzusetzen, trägt bereits die ersten Früchte. „Riesengroßes Interesse“ sei festzustellen, es gebe Tausende von Bewerbungen. Etwa 1.700 sollen noch in diesem Halbjahr eingesetzt werden. Mit welchen Befugnissen, das steht nach Kenntnis des Pirnaer BGS- Chefs noch nicht genau fest. Auch nicht, ob die „Helfer“ uniformiert oder nur mit Armbinde ihren Dienst verrichten.
Eine von Rechtsradikalen durchsetzte Eingreiftruppe wie die Berliner Hilfspolizei werde dabei nicht entstehen, gibt sich Claußner überzeugt. Der BGS sei kein „Tummelplatz“ für zwielichtige Gestalten. „Wir wollen Mitarbeiter im Angestelltenverhältnis. Als Einstellungsbehörde behalten wir uns die Auswahl vor.“ Ex-Stasi- Leute hätten keine Chance, meint Claußner. Zudem müßten sich alle Bewerber einer Befragung unterziehen, „wie sie für Mitarbeiter im öffentlichen Dienst üblich ist“. Auf diesem Weg, hofft er, könnten auch jene Landsleute aussortiert werden, die als Hilfssheriffs „den Ausländern“ nur mal zeigen wollen, was eine deutsche Harke ist.
Steffen Claußner führt allgemein „die Situation an der Ostgrenze“ als Hintergrund für die Anwerbung ins Feld. Um die Beutezüge in Spreedorf kann es dabei nicht gehen. In Ebersbach sind die grünen BGS-Werbeplakate nicht einmal gesehen worden. Die betroffenen BewohnerInnen könnten als Zeugen soviel Fakten über das Know-how der Diebe zusammentragen, daß das Thema nach einer prägnanten Strafverfolgung bald vom Tisch wäre.
Bleibt die Tatsache, daß das politische Ansinnen, selbst bei der Abdichtung des angeblich übervollen „Bootes“ Hand anzulegen, den offenkundigen Beifall großer Teile der jungen, männlichen und vom Zusammenbruch ihrer alten Betriebe enttäuschten Bürger findet. So wie bei den Biertrinkern im Ebersbacher „Imbißstübel“. Dort sind die Einbrüche in Spreedorf ein beliebtes Thema. „Bei mir waren sie auch schon siebenmal“, seufzt die Wirtin. Zwei Männer lassen auf ihren Gläsern bedächtig die Bierblumen wachsen und nicken wissend: „70 Prozent der Kriminellen sind doch Ausländer“, weiß der eine; und sein Kumpel dreht die Weisheit gleich um: „Wenn die Ausländer kommen, ist alles klar.“
Einige „wohlsituierte“ Bürger sollen örtlichen Skins schon 1.000 Mark geboten haben. Damit die „Ordnung schaffen“.
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