: Parlament lehnt Wiederbelebung des Radikalenerlasses ab
■ CDU-Antrag gescheitert / Statt „Gesinnungsschnüffelei“ und erneuten Berufsverboten Rechtsradikalismus argumentativ bekämpfen
Der Geist von Willy Brandt schwebte über dem Plenarsaal der Bürgerschaft, und ausgerechnet der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Ralf Borttscheller, hatte ihn gerufen. Brandt sei es gewesen, der mit dem Radikalenerlaß 1972 für Neueinstellungen im öffentlichen Dienst die Regelanfrage beim Verfassungsschutz eingeführt habe. Jetzt, wo Rechtsradikalismus den Staat bedrohe, könnten doch die Sozialdemokraten nichts dagegen haben, den Erlaß weiter anzuwenden. Die CDU hatte dazu einen Antrag in das Landesparlament eingebracht, der Senat solle „die einschlägigen Bestimmungen (...) strikt anzuwenden.“ — „Nach Mölln muß doch jeder wissen, daß sich hier ein Rechtsextremismus anbahnt, dem wir nicht tatenlos zusehen wollen“, meinte Borttscheller.
Die Geister, die er rief, wurde er nicht mehr los. Willy Brandt habe später eingesehen, daß der Radikalenerlaß „einer der größten Fehler in seinem politischen Leben“ gewesen sei, antwortete Horst Isola für die SPD. Der Radikalenerlaß habe „hunderttausende Berufsanfänger ausgehorcht“, „Gesinnungsschnüffelei“ und Berufsverbote zur Folge gehabt. „Und dieses Folterinstrument will die CDU jetzt aus dem Keller holen, um den Rechtsradikalismus zu bekämpfen, den sie jahrelang verharmlost hat“, sagte Isola. Axel Adamietz (FDP) zitierte aus einem Bericht der Bundesregierung von 1979: Durch den Radikalenerlaß sei „die demokratische Substanz eher geschwächt als gestärkt“ worden.
Auch der Grüne Hermann Kuhn lehnte eine Wiederbelebung des Radikalenerlasses ab. Das sei die „Sanktionierung von Gesinnung“, eine „Einschränkung von politischen Rechten für ganze Berufsgruppen“. Kuhn erzählte, wie er selbst zweimal Opfer des Erlasses geworden ist. 1974 sei ihm die Einstellung als Lehrer verweigert worden: Kuhn hatte gegen den Radikalenerlaß demonstriert und eine Sitzung der Bildungsdeputation gestört, bei einer KBW- Demo eine rote Fahne getragen und die Kommunistische Volkszeitung verkauft. Auch in Niedersachsen sei er deshalb später aus dem Schuldienst geflogen. Der Radikalenerlaß habe bei vielen zu Brüchen in der Biographie geführt: „Ich selbst wurde Schriftsetzer, Betriebsrat, jetzt bin ich Bürgerschaftsabgeordneter, und das, meine Damen und Herren von der CDU, können Sie nicht gewollt haben.“
Staatsrat Friedrich Dopatka von der Senatskomission für das Personalwesen (SKP) machte keinen Hehl daraus, daß er den Radikalenerlaß unterstützt. „Der Rechtsextremismus hat eine dramatische Blutspur in unserem Land gezogen, und deshalb muß er auf das Entschiedenste bekämpft werden“. Der Erlaß mache bei Einstellungen in Polizeidienst, Justiz und Justizvollzug weiterhin Sinn.
Auch die rechtsextremen Gruppen Nationalkonservative (NK) und DVU beteiligten sich an der Debatte. NK-Sprecher Hans Altermann empfahl der CDU, sich anders als mit Verboten „mit den rechten Kräften“ auseinanderzusetzen, Hans- Otto Weidenbach (DVU) hielt der CDU Doppelzüngigkeit vor: Während sie einen DKP-nahen Briefträger mit dem Radikalenerlaß bestraft hat, habe Kanzler Kohl „dem Vorsitzenden des verbrecherischen SED-Regimes den roten Teppich ausgerollt.“
Der Antrag der CDU wurde abgelehnt, dem Vernehmen nach hat der Senat die SKP damit beauftragt, eine neue Regelung zu treffen. Im Senat gehört auch der Innensenator, der die Regelanfragen durchzuführen hat, zu den Gegnern des Radikalenerlasses. mad
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