■ Bücher.klein: Familie Scholl
„Ich finde es nicht gut für die Seele, wenn sie sich in Erinnerungen flüchtet und beinahe mehr dort lebt als in der Gegenwart. Das gibt eine lebensscheue und kranke Romantik.“ Das schreibt die damals 25jährige Inge Scholl an den Vater. Und doch dreht sich fast ihr gesamtes Dasein um zwei Tote. Wenige Tage nach der Hinrichtung der Geschwister Hans und Sophie Scholl am 22. Februar 1943 werden Vater Robert, Mutter Magdalene sowie die Töchter Elisabeth und Inge von den Nazis in Sippenhaft genommen. Fast rasend vor Trauer gelingt es der Familie, die im gleichen Gefängnis in Ulm untergebracht wird, sich mit Kassibern untereinander zu verständigen. Kurz nach der Beerdigung der „beiden Guten“, seiner „Sonnenkinder“, hatte Robert Scholl der Familie noch kollektiven Selbstmord als Ausweg vorgeschlagen. Doch man entschied sich dafür, an alldem „zu wachsen“ (Inge Scholl). Daß dabei die Religion als Bindemittel im Mittelpunkt steht, wundert weiter nicht. „So ist es gut, daß wir an der Welt leiden müssen“, schreibt Freund Otto Aicher der Familie.
Zwischen diesen Menschen, zwischen Eltern und Kindern, lebt ein besonderer Geist. Dem Vater waren „Hans und Sopherle“ mehr als nur Sohn und Tochter, sie waren „geistige Kameraden“. Er ist sicherlich auch der politischste Kopf der Familie, gelingt es ihm doch, seine moralische Kritik an den Nazis mit einer eschatologischen Vision zu verbinden: „Seit 1914 haben wir nie mehr eine normale Zeit erlebt. Sie kommt erstmals nach diesem Kriege wieder.“
Die Kassiber sind nicht nur Zeichen der moralischen Kraft dieser besonderen deutschen Familie. Sie sind auch Dokumente einer fast mystischen Bindung aneinander, wenn man sich etwa die vielen „heiteren Träume“ erzählt und beschreibt, wie die beiden Toten ihnen „erschienen“. Oder wenn der Vater an Tochter Inge gerichtet meint: „Und doch müssen wir leben und ringen, schon um die Früchte des Opfertodes unserer Guten ausreifen zu lassen.“
Manchmal wirkt der Ton allzu pathetisch und versteigt sich besonders Inge Scholl in besorgten Briefen an den Vater in eine geradezu hysterische Lage: „Man kann fast sagen, ihr (Sophie Scholls, d.A.) Wollen war das einer Heiligen und ihr Sterben entsprach dem seligen Lächeln oder umgekehrt: ihr Lächeln entsprach diesem reinen Wollen.“
Inge Aicher-Scholl, die die „Nachrichten und Botschaften der Familie“ nun nach 50 Jahren herausgab, schreibt daher auch im Nachwort, daß die heutige Leserschaft nicht vergessen solle und dürfe, unter welch brutalen Bedingungen die Briefe, die „Heiterkeit, Zuversicht, Zärtlichkeit ausstrahlen“, zustande kamen. AS
„Sippenhaft“, Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, hrsg. von Inge Aicher-Scholl, S. Fischer 1993, 137 Seiten, 29,80 DM
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