■ Über die Scham und die Chance, zu wachsen: Kaderakte Herbert Wehner
Wer je das Gesicht Herbert Wehners studiert hat, wußte: Da fraß sich manches hinein. Vieles weiß man von den Abgründen eines Menschen, ohne es genau zu wissen. Eine Überraschung ist es für niemanden, nun vom Stern zu erfahren, daß der Mann kein Gentleman war, in jenen finsteren Zeiten im Moskauer Hotel Lux. Soll man deswegen bedauern, daß der sehr scharfe Wind, der zur Zeit auf dem Medienmarkt rund um die Alster weht, nun auch noch die Enthüllungsstory über Herbert Wehners stalinistische Irrtümer und Untaten aufwirbelt, wo wir doch schon an unseren Dichtern so viel zu lesen haben?
Nein, der altbekannte neuerforschte Fall Wehner bringt uns wirklich voran in der Debatte um die Vergangenheitsbewältigung, Teil zwei, er gibt ihr eine neue Dimension.
Jetzt, wo es ums Urgestein der westdeutschen Demokratie geht, kommen wir der Entscheidung, die es wirklich zu fällen gilt, vielleicht näher. Herbert Wehner – polternd, raunzend, verkrümmt in seinem grünen, abgeschabten Ledersitz in der ersten Reihe des alten Adenauerparlaments sitzend –, das war unsere parlamentarische Kinderstube. Herbert Wehner, unverwechselbar bitter, leidenschaftlich, pointenreich, eine Kaskade von Wortexplosionen am Rednerpult, das war die Rednerschule für alle, die im Bundestag etwas Besonderes werden wollten – von Joschka Fischer bis Franz Josef Strauß.
Ein Wehner ist ohne diese Biographie nicht denkbar, nicht ohne diese Moskauer Grausamkeiten – und nicht ohne die Scham über die Irrtümer, die er für immer für sich behalten hat. Im Jahre 1949 gab es keinen öffentlichen Einblick in die Kaderakte Wehner. Für diese schonungslose Erkenntnis hat der Alte ein Recht auf Privatheit in Anspruch genommen, um einen Rausch eigener Art auszukosten. Die Scham ist der einzige Rausch, durch den man nicht aufhört zu wachsen, sagt Theweleit. Es hat seinen Preis gekostet, bis der Demokrat Wehner geformt und gewachsen war oder – um andere Beispiele zu nennen – bis der Journalist Werner Höfer ein Ermutiger für unideologischen Journalismus, der Liberale Theodor Heuß wirklich liberal wurde. Alle haben von diesem Rauschmittel reichlich genommen. Alle sind auf ihre Weise groß und unvergleichbar geworden. Sie waren unersetzbar für die Nachkriegsgeschichte einer jungen Demokratie. Die derzeitige Stasi-Debatte ist deswegen so schamlos, weil sie so wenig Wachstum zuläßt. Antje Vollmer
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