Keine KGB-Akte über Andrej Sacharow

Auf einem dreitägigen Kongreß der Stiftung „Glasnost“ beschäftigten sich Dissidenten und Ex-KGB-Mitarbeiter mit Vergangenheit und Zukunft des Geheimdienstes  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Daß das nach dem Putsch gebildete neue „Ministerium für Sicherheit“ dem alten KGB nur ein anderes Aushängeschild verschafft hat und daß diese Organisation jetzt ihren Zugriff auf die russische Gesellschaft wieder festigt, daran zweifelten die meisten Teilnehmer einer dreitägigen Konferenz am letzten Wochenende in Moskau keinen Augenblick. „Der KGB gestern, heute und morgen“ hieß die Veranstaltung der reformorientierten Stiftung „Glasnost“ mit Altdissidenten und internationalen Sicherheitsdienst-Experten.

„Bisher gibt es im Lande Veränderungen nur an der Oberfläche“, sagte Ex-KGB-General Oleg Danilowitsch Kalugin, und sorgte gleich darauf für eine Sensation. Als Beweis, daß der KGB wie eh und je aktiv die demokratischen Reformen im Lande bekämpft, führte er einen denunziatorischen Artikel mit dem Titel „Einflußagenten“ an, den die Zeitung Sowjetskaja Rossija Ende letzten Jahres veröffentlichte.

Darin waren führende Vertreter der Organisation „Demokratisches Rußland“ und der einstige Gorbatschow- und heutige Jelzin- Berater Alexander Jakowlew der Zusammenarbeit mit dem CIA bezichtigt worden. Einer der Autoren, der Abgeordnete Sergej Baburin, Führer der hurrahpatriotischen Zwergpartei ROS (Russischer gesamtvölkischer Bund), so enthüllte nun Kalugin, sei ihm seit den 80er Jahren als Mitarbeiter des Omsker KGB unter dem Decknamen Nikolaj bekannt. Das Material zu dem Artikel sei für Baburin im Ministerium für Sicherheit vorfabriziert worden, vor allem ausgewählte Informationen über USA- Reisen der Beschuldigten.

All diese Behauptungen seien natürlich falsch. Auch Sicherheitsminister Barannikow, so Kalugin abschließend, habe seine direkte Frage nach einer CIA-Tätigkeit Jakowlews bei einem Telefongespräch mit einem klaren Nein beantwortet.

Durch die Bank mit KGBlern besetzt sei auch der Ausschuß des Obersten Sowjet zur Kontrolle über die Geheimdienste. Noch immer habe das Ministerium für Sicherheit 140.000 Mitarbeiter, siebenmal soviel wie das FBI und haargenau soviel wie der zentrale KGB zur UdSSR-Zeit. Daneben existieren GUS-weit noch lokale Ex-KGB-Dienste und in Rußland unter anderem ein Auslandsspionagedienst sowie Grenzstreitkräfte mit ähnlichem Status.

„Oleg Danilowitsch war mit seiner Zahlenangabe der Wahrheit sehr nahe“, gestand der einzige offizielle Vertreter des Ministeriums für Sicherheit, Pressesprecher Alexej Kondaurow. Im übrigen sei aber der heutige Sicherheitsdienst qualitativ verschieden von seinem Vorgänger, das Personal zu einem Drittel ausgewechselt: „Grob gesagt, können wir nicht einmal mehr eine Wanze ohne staatsanwaltliche Erlaubnis installieren!“

Diese Behauptung verursachte Wutausbrüche bei den Dissidenten: war doch noch letzte Woche dem Leiter der Konferenz, Sergej Grigorjanz, demonstrativ das Telefon abgeschaltet worden.

Die Kotrolle des Sicherheitsdienstes

Die parallelen Sektionen des Forums beschäftigten sich mit vier Themenkreisen: „KGB und Ein- und Ausreise“ – zum Beispiel Kontakte unter Emigranten und Rußlanddeutschen; „KGB und Kirche“; „KGB und ehemalige Ostblock-Staaten“ und „KGB in den GUS-Ländern und baltischen Staaten“. Im Zentrum der Plenumsdiskussionen stand jedoch fast ausschließlich die Frage, wie der Sicherheitsdienst kontrolliert werden könnte.

Der Kontrolle entzogen sind so zum Beispiel noch immer die Archive. „Sofort nach dem Tod Andrej Dmitriejewitsch Sacharows, zu Beginn des Jahres 1990, habe ich einen Abgeordnetenantrag auf Eingliederung seines KGB-Archivs in die persönliche Erbmasse gestellt“, berichtete die Parlamentsabgeordnete Galina Starowojtowa: „Ich sprach mit dem damals schon abgelösten KGB-Vorsitzenden Tschebrikow, der mir ein paar Streicheleinheiten verpaßte, indem er sagte: ,Sacharow? In dessen Angelegenheiten haben wir überhaupt nie eine Akte geführt!‘“

Heute wisse sie, daß Hunderte von Sacharow-Akten aus den Archiven verschwunden sind. Der KGB könne sich nicht aufgelöst haben, argumentierte sie, da eine Entlassung aus diesem Geheimdienst nie möglich gewesen sei: „Auch ein pensionierter KGBler bleibt sein Leben lang in Reserve!“ Der Verband „Demokratisches Rußland“ bereite daher eine Gesetzesvorlage über die zeitlich befristete Unvereinbarkeit politischer Ämter und der Lehrtätigkeit an Universitäten für ehemalige hohe KPdSU-Mitglieder und Geheimdienstler vor.

Die gesellschaftliche Basis dafür sei in Rußland allerdings noch geringer als in anderen osteuropäischen Staaten: „Bei den Wahlen des russischen Präsidenten im Juni 1990 kandidierten für diesen Posten drei ehemalige Mitglieder des ZK der KPdSU, Nikolaj Ryschkow, Boris Jelzin und der hier anwesende Vadim Bakatin, außerdem der Führer einer von den Geheimdiensten kreierten Partei (Schirinowski, Anm. d. Red.) und ein nationalistisch gesinnter General (Makaschow, Anm. d. Red.). Sechs Monate später kam es in Polen zu Präsidentenwahlen, für die sich der Elektriker und ehemalige Solidarność-Führer Lech Walesa, der katholische Journalist Thadeusz Mazowiecki und der polnischstämmige ausländische Kapitalist Deminski bewarben. Da haben wir den ganzen Unterschied!“

An diesem Punkt knüpfte Vadim Bakatin an. Der Ex-Innenminister unter Gorbatschow war nach dem Putsch vier Monate lang Chef des Ministeriums für Sicherheit. Für diesen Zeitraum bescheinigten ihm Konferenzteilnehmer den einzigen ernstzunehmenden Versuch einer Reform des KGB. Auch ließ Bakatin durchblicken, daß dessen Interaktionen mit nationalistischen Strömungen keineswegs im Interesse des Geheimdienstes insgesamt liegen: „Schließlich eröffnen sich uns heutzutage einmalige Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten. Alle ideologischen Barrieren sind beseitigt!“

Bakatin sprach sich für ein generelles Verbot politischer Betätigung sogar für alle Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten aus, wandte sich aber indirekt wiederholt dagegen, diese über einen Kamm zu scheren.

Er erinnerte daran, daß es schließlich der KGB gewesen war, von dem die Initiative zur Perestroika ausging, und appellierte: „Die einzige Garantie, daß die Reformen nicht rückgängig gemacht werden, können heute, wo die gesetzliche Kontrolle noch nicht wirksam ist, nur Vertreter der Geheimdienste geben... Man muß sie auf solche Kongreße einladen, auch wenn sie nicht gern kommen!“