: Entscheiden Gerichte über Metalltarife im Osten?
■ Nach der einseitigen Kündigung der Tarifverträge wirft die IG Metall den Arbeitgebern „Erpressung“ vor/ Schlichter vermuten bösen Willen
Frankfurt (AP) – Angesichts unvereinbarer Standpunkte über die Rechtmäßigkeit der vorzeitigen Kündigung von Tarifverträgen treibt die Auseinandersetzung in der ostdeutschen Metallindustrie immer mehr auf die Gerichte zu. Gesamtmetall-Präsident Hans-Joachim Gottschol warnte am Sonntag vor einem weiteren Lohnkostenschub. Die IG Metall ihrerseits warnte die Arbeitgeber in Berlin- Brandenburg vor einem „Vertragsbruch“. Einer der Schlichter der Tarifrunde in Thüringen, Rudi Arndt, warf den Arbeitgebern am Samstag vor, sie hätten eine Einigung vorsätzlich verhindert.
Der Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie hatte am vergangenen Donnerstag die mit der IG Metall vereinbarten Lohnerhöhungen von 26 Prozent ab 1. April und die spätere volle Angleichung an das Westniveau durch vorzeitige Kündigung des Vertrages abgelehnt. Gottschol sagte der Berliner Morgenpost, ein Lohnkostenschub würde zur Stillegung von Betriebsteilen oder ganzen Betrieben führen: „Dann wäre wirklich das Ende der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie eingeläutet.“ Der IG Metall warf Gottschol „erpresserisches Verhalten“ und eine Gefährdung der Tarifautonomie vor.
Die Tarifkommission der Bezirksleitung der IG Metall Berlin- Brandenburg erklärte in einer am Wochenende verabschiedeten Entschließung: „Mit dem Versuch der Arbeitgeberverbände, den 1991 abgeschlossenen Stufenplan zur Angleichung der Löhne und Gehälter an das westliche Tarifniveau nicht anzuwenden, wird der grundlegende Konsens der Tarifvertragsparteien in Frage gestellt.“ Mit der ergebnislosen Beendigung der Schlichtung am vergangenen Freitag sei das Revisionsverfahren beendet. Damit seien die Tarifverträge gültig. Die nächste Angleichung auf rund 80 Prozent des Westberliner Tarifniveaus habe zum 1. April zu erfolgen.
In Thüringen hätten die drei vom Arbeitgeberverband benannten Schlichter offensichtlich eine „höhere Weisung“ gehabt, die Gespräche scheitern zu lassen, sagte der frühere Frankfurter Oberbürgermeister Arndt. Zuvor hatte schon der Schlichter in Sachsen, der Bremer Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel, den dortigen Arbeitgebern vorgeworfen, sie hätten „die Schlichtung in keiner Sekunde ernst genommen“.
Aus Äußerungen von Arbeitsrechtlern wurde deutlich, daß es noch keinen gültigen Rechtsmaßstab zur Entscheidung der Frage gibt. Der Tübinger Arbeitsrechtler Eduard Picker verwies auf die „rechtstheoretisch mögliche Kündigung von Tarifverträgen“. Prinzipiell sei die Kündigung eines Vertrages erlaubt, wenn dessen Geschäftsgrundlage entfalle. Auf den Metallstreit übertragen, heiße dies: Laufe die soziale und wirtschaftliche Entwicklung so radikal den Erwartungen zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses zuwider, daß der Vertrag für eine Seite unerfüllbar werde, dann könne diese eine einseitige Kündigung aussprechen. Seine Kollegen Bernd Rüthers und Wolfgang Däubler meldeten Zweifel an der Durchsetzbarkeit der Kündigung an. Rüthers äußerte sich in der Welt skeptisch über die Erfolgsaussichten der Arbeitgeber vor Gericht. Sie müßten im Einzelfall eine wirtschaftliche Notlage nachweisen, die mit einer 26prozentigen Lohnerhöhung entstünde. Däubler bewertete die Tarifvertragskündigung als „eindeutig rechtswidrig“. Er meinte, wenn die Unternehmen nun die Zahlung der Lohnerhöhung von 26 Prozent verweigerten, hätten die Beschäftigten ein „Zurückhaltungsrecht“ und könnten ihre Arbeitsleistung verweigern.
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