: Atempause für Nordböhmen?
Atom statt Kohle oder Ökowende: Die Smogkatastrophe hat den Protest der Bevölkerung mobilisiert/ Aber für die Prager Regierung steht der Umweltschutz nur an zweiter Stelle ■ Aus Litvinov Detlef Krell
In die nordböhmische Industriestadt Most ist mit den kräftigen Schneefällen der vergangenen Tage wieder einmal „normales Leben“ möglich geworden. Mütter gehen mit ihren Kindern auf der Straße spazieren, die Schulkids liefern sich Schneeballschlachten; ja, und auch die Autos dürfen wieder fahren. „Normal“ heißt, daß die drei Wochen lang fast ununterbrochen zwischen den Bergen wabernde Smogsuppe aus der Luft gewaschen wurde. „Normal“ heißt aber auch, daß Kraftwerke und Industriegiganten weiterqualmen, als sei nichts geschehen.
Most ist eine Wohnsiedlung für 50.000 Menschen. Betonhochhäuser und vierspurige Schnellstraßen bestimmen das Stadtbild. Das alte Most ist auf einige verlorene Ecken zusammengedrängt. Seit Mitte der sechziger Jahre wurde die malerisch gelegene Gebirgsstadt nach und nach abgerissen und in einen Tagebau verwandelt.
In die zwölf Kilometer entfernte Stadt Litvinov fährt sogar die Straßenbahn. Zwischen beiden Städten erstreckt sich „Chemopetrol“, einer der größten Konzerne dieser höchstindustrialisierten Region der Tschechischen Republik. 10.000 Menschen arbeiten hier, sie produzieren Treibstoffe und Plastik. Teerschwarze Masse kotzt aus den Schornsteinen.
„Die größte Smogbelastung der letzten fünf Jahre“ sei vorläufig überstanden, resümiert Pavel Novak im „Grünen Haus“ von Litvinov, einem unabhängigen Informations- und Schulungszentrum für die oft noch jungen ökologischen Initiativen der Industrieregion. Junge Menschen, SchülerInnen, StudentInnen seien es vor allem gewesen, die diesmal ihre Angst im Protest öffentlich gemacht haben.
Mit symbolischen Atemschutzmasken gingen sie auf die Straße, wo sie echte Masken dringend nötig gehabt hätten. In Chomutov registrierten die Meßstationen mehr als 2.400 Mikrogramm Schwefeldioxid pro Kubikmeter. Maximal 500 sind zugelassen. Ebenso hohe Werte wurden nördlich von Most, in der Kleinstadt Mezibori, gemessen. Von Jugendprotesten getrieben, reagierten diesmal auch die Politiker in den Kommunen. Ratsleute aus Most protestierten schriftlich bei der Prager Regierung. Alarm schlug der Chefarzt der Kinderklinik in Usti nad Labem, Jaroslav Homola, der heute schon eine „Generation von Invaliden“ heranwachsen sieht. Doch Pavel Novak kennt die Resignation vieler Leute zwischen Chomutov und Decin: „Sie meinen, die Regierung habe die Zukunft der Region schon abgeschrieben. Obwohl das Land von Nordböhmen lebt.“
Noch. Optimistische Schätzungen gehen davon aus, daß das nordböhmische Kohlebecken spätestens im Jahr 2030 leer ist. Nicht nur im „Grünen Haus“ wird diese Prognose angezweifelt. Die deutschsprachige Prager Zeitung beruft sich auf Expertenschätzungen, wonach die Kohle nur bis 2005 reicht. Das kürzlich in Prag unterzeichnete Joint- venture-Abkommen zwischen dem US-amerikanischen Engineering-Unternehmen „Power International “ und der kanadischen Projektierungsfirma „Dynamis“ für die ökologische Umrüstung der nordböhmischen Kohlekraftwerke erscheint unter diesen Vorzeichen fragwürdig. Zudem sind die handelsüblichen Entschwefelungsanlagen, mit denen fünf böhmische Kraftwerke in den nächsten drei Jahren nachgerüstet werden sollen, nicht für eine derart schwefelhaltige Kohle gebaut worden, wie sie in Böhmen zutage gefördert wird.
Die Frage nach der Perspektive der Kohleöfen könnte nur in einem Energiekonzept für die Tschechische Republik beantwortet werden. Daran wird noch geschrieben. Ein erster Schritt sind energetische Studien über zunächst kleinere Gebiete der Republik. Finanzhilfe zahlt die EG aus ihrem Programm „Phare“ zur Umstrukturierung in Ost- und Mitteleuropa.
Pavel Novak ist der tschechische Koordinator in diesem Projekt. Fachlich fundierte Information hält er für die zunächst wichtigste Aufgabe. Mit Sorge sehen Umweltgruppen und auch immer mehr Laien die Bemühungen um den Bau des südböhmischen Atomkraftwerkes Temelin. Angesichts der rauchenden Kohleschlote lasse sich so eine „saubere“ Alternative ganz gut verkaufen. „Wenn das Atomkraftwerk kommt, können in Böhmen 2.000 Megawatt abgeschaltet werden“, zitiert Novak die nach seiner Meinung populistische Argumentation in Prag, die den Menschen in der Kohleregion eine „Erleichterung“ um 40 Prozent suggeriert. Es sei doch bekannt, daß schon heute tschechischer Strom nach Italien und in die Schweiz geliefert werde.
Welche Position Premier Václav Klaus vertritt, ist in den vergangenen Tagen hinreichend deutlich geworden. Als StudentInnen aus Teplice vor dem Regierungsgebäude demonstrierten, bezeichnete er deren Argumente als „trivial und kindisch“ und die Demo als „bolschewistisch und terroristisch“. Novak kommentiert diesen Auftritt ganz sachlich: „Klaus ist stark, er hat viel Unterstützung in der Wirtschaft. Umwelt fährt bei uns auf der zweiten Schiene.“ Und dort ist deshalb auch Umweltminister Benda zu finden, auf dessen Haltung sich die „Grünen“ in Litvinov noch nicht so recht einen Reim machen können: „Das ist so eine Sache mit Benda, wir wissen nicht, was er will.“ Immerhin habe er die Regierung als einziger davor gewarnt, die Argumente der besorgten Öffentlichkeit einfach zu ignorieren.
Als kleinen Erfolg der nordböhmischen Öko-Gruppen wertet Pavel Novak, daß der Abriß von Libkovice, einem Dorf bei Duchcov, zumindest verzögert werden konnte. Libkovice ist der letzte Ort, der einer Expansion der Kohlegrube Hlubina entgegensteht. Nur ein halbes Dutzend Familien harrt am Rande des Tagebaus trotzig aus. Auch in Duchcov, wo einst der Frauenheld Casanova geboren wurde, regt sich Widerstand gegen die Verwüstung. „112 Dörfer wurden bereits für die Kohle vernichtet“, rechnet der junge Ökologe die Bilanz der Verheizung seiner Heimat vor. Die Leute hier seien nun immer weniger bereit, für Braunkohle extrem schlechter Qualität, deren Energie noch zu einem großen Teil vergeudet werde, ihre Siedlungen aufzugeben. Ob Libkovice gerettet ist, entscheidet sich aber erst in nächster Zukunft. Industrieminister Dlouhy wolle noch diese Woche nach Libkovice kommen und an beiden „Fronten“, im Dorf und bei den Managern der Grube, die Lage sichten. Der Chef von Hlubina, weiß Pavel Novak, habe schon mal signalisiert, daß er sich vom Minister nicht in die Geschäfte reinreden lassen werde. Der wichtigste Hebel für die Ökologisierung dieser geschundenen Region ist die Zerschlagung des staatlichen Energiemonopols. Daran besteht im Litvinover Grünen Haus kein Zweifel. Doch auch die Gewerkschaft trete mittlerweile mit dieser Forderung auf den Plan. Sie gehe zwar, erklärt Pavel Novak, nur einen halben Schritt, wenn sie die nordböhmischen Kraftwerke aus dem Staatsbetrieb heraus und dann wieder in einem neuen Konzern zusammenführen wolle. Dennoch werde sie in diesem Kampf von den Öko- Gruppen unterstützt. Mit der Zerschlagung des staatlichen Energiemonopols sollen die Werke, an denen Zehntausende Arbeitsplätze hängen, flexibler auf neue Umweltbedingungen reagieren und sich ökologisch erneuern können. Dazu brauchen sie Geld, aber die Gewinne fließen heute noch in den großen Staatstopf und von dort, wie eine kritische Öffentlichkeit befürchtet, vor allem in den Bau von Temelin.
In einer gesetzlich fixierten Frist bis Ende 1997 müssen alle Kraftwerke so ausgestattet werden, daß sie die Umweltnormen erfüllen. Im vergangenen Herbst hat sich Deutschland auf einer Konferenz über die Umweltsituation im „Schwarzen Dreieck“ von Böhmen, Schlesien und Sachsen bereit erklärt, 70 Millionen Mark in Emissionsschutzanlagen tschechischer und polnischer Kraftwerke zu stecken. Doch auch unabhängige Umweltgruppen arbeiten längst an grenzüberschreitenden Projekten. Im Dresdner Ökoprojekt „Elberaum“ der Grünen Liga wird dieser Tage eine Laborfahrt auf den beiden Flüssen Bilina und Ohre vorbereitet. Im Mai wollen böhmische und sächsische Umweltinitiativen auf dieser Tour nicht nur den Zustand der von Industrie gesäumten Flüsse analysieren. Vor allem wollen sie mit den betroffenen Menschen reden. Valentijn van 't Riet, ein Mitarbeiter des Projekts in Dresden, ist zuversichtlich, daß damit ein „Kristallisationspunkt für potentielles Interesse“ geschaffen werden könne.
Er widerspricht dem Vorurteil, wonach sich die Leute in der Katastrophenregion nicht für Ökologie interessierten. Die Vorbereitung der Tour bei Kommunalpolitikern und sogar in Betrieben habe ihn eines Besseren belehrt. An Runde Tische ist gedacht, offene Tage in Betrieben und Arbeitsgruppen, die sich sachkundig in Entscheidungen einmischen.
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