Stehen still und staunen stumm

■ Ibsens „Ein Volksfeind“ im Maxim Gorki Theater

Der Badearzt Tomas Stockmann ist ein Volksfreund. Schließlich hat er gerade noch rechtzeitig entdeckt, daß das Wasser des städtischen Heilbades verseucht ist. Als der Bürgermeister, Stockmanns Bruder, die horrenden Kosten für die notwendigen Umbaumaßnahmen überschlägt und feststellt, daß das Bad überdies zwei Jahre geschlossen bleiben müßte, sieht man den Fall jedoch mit anderen Augen. Bisherige Maulhelden der Wahrheit, wie die Redakteure der Lokalzeitung, kippen plötzlich in Bücklingshaltung vornüber und zweifeln an dem wissenschaftlichen Gutachten. Stockmann ist jetzt ein Volksfeind. Er beruft eine Versammlung ein und hält eine aufrührerische Rede gegen die Diktatur der öffentlichen Meinung. Dem Zwischenruf „Wir sind das Volk“ stellt er unausgesprochen, aber eindeutig entgegen: „Das Volk bin ich.“

Vor 110 Jahren wurde Henrik Ibsens Drama uraufgeführt. Weder an dem heuchlerischen Geldbeutel-Pragmatismus in ökologischen Fragen noch am Filz lokaler Politik hat sich etwas geändert. Und der Grat zwischen einer Demokratie, die nicht mehr ist als die Diktatur des Mittelmaßes, und einem elitären Individualismus, hat sich vielleicht noch verschmälert. Wenn also überhaupt eines von Ibsens mühsamen Stücken gespielt werden soll, so hat Klaus Pierwoß, der Dramaturg des Maxim Gorki Theaters, mit dem „Volksfeind“ sicher die erste Wahl getroffen.

Ibsen aber ist dramengeschichtlich ein Zwitter. Wie er seine sozialrevolutionären Themen szenisch verpackte, war in Form und Sprache schon am Ende des vorigen Jahrhunderts konventionell. Leute, die sich seit Jahren kennen, sagen sich seitenlang Dinge, die sie schon lange wissen – eine Art Ansprache an das Publikum mit verteilten Rollen. Ein informativer Realismus, der zu einer Zeit notwendig gewesen sein mochte, als die Regisseure nur darauf zu achten hatten, daß die Schauspieler in der Mitte der Bühne stehen.

Siegfried Bühr, der Regisseur der neuesten „Volksfeind“-Inszenierung, hätte einen abgemagerten Text bebildern können. Das tat er aber nicht. Zuverlässig, aber unverbindlich, nunancenreich, aber ohne Inspiration arrangierte er den Fünfakter auf der selbstgestalteten Bühne des Maxim Gorki Theaters. Wie soll sich Klaus Manchen als Badearzt an einer Menge entzünden, deren Aggressivität gerade mal notdürftig die Regieanweisung „Tumult“ umzusetzen scheint? Wie anders als papieren kann Hilmar Baumann als Bürgermeister wirken, wenn hinter seinen Amtshandlungen nicht auch der Bruderhaß deutlich werden darf? Bei Bühr geht es immer nur um das, was auch zu hören ist. Auch Thomas Rühmann und Ulrich Anschütz als Zeitungsredakteure (eigentlich aber sich in der Druckerschwärze geistig windende und auf Stockmanns Tochter lüsterne Würmer) stehen nur still und staunen stumm, wenn andere reden.

Etwas kleinere Rollen konnten in diesem engen Rahmen vielschichtiger gestaltet werden. Gerd Michael Henneberg als kleinbürgerlicher Buchdrucker Aslasken beispielsweise lebt seine Mäßigkeitsperversion mit dem zutreffenden Heuchlerblick des ewigen und zu allem bereiten Mitläufertypus aus. Und Albert Hetterle brachte bei seinen kurzen Auftritten als Stockmannscher Schwiegervater jedesmal eine ganze Lebensgeschichte mit auf die Bühne – seltene Momente von Wahrhaftigkeit in dieser erstaunlich unbeteiligten Inszenierung. Petra Kohse

Nächste Aufführung: 7. März.