: Dichter im Schreckenszentrum
Kataplektisch, aphasich, obsessiv: Vladimir Sorokins Erzählung „Ein Monat in Dachau“ macht das Experiment eines sprachlichen Sadomasochismus' zu einer liturgischen Kommunion ■ Von Mirjam Schaub
Eines Tages im Jahr 1992 begegnete auf den lädierten Straßen Dresdens der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin (37) einem deutschen Polizisten. Der Uniformierte ging wortlos an ihm vorüber. „Ich wundere mich, daß man mich hier nicht als Kriegsgefangenen verhaftet“, sagte Sorokin später auf einer Lesung, und das war kein Witz.
„Ein Monat in Dachau“ heißt das jüngste Buch des seltsamen Konzeptualisten, von dem in Deutschland seit Ende der achtziger Jahre bereits „Die Schlange, Marinas dreißigste Liebe“ und „Der Obelisk“ erschienen sind. Peter Urban hat Sorokins neueste Erzählung – so gut es ging – ins Deutsche übersetzt. Der Text entzündet sich, wie es scheint, an Sorokins Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Dachau im ersten gesamtdeutschen Jahr 1990.
Im ersten Teil des Buches reist der Schriftsteller Sorokin mit dem Zug von Rußland über Polen nach Deutschland ein. Die Landschaft hat sich verändert: „Unter Speers Führung haben Tausende von Menschen und Maschinen aus der hiesigen Landschaft SEIN Gesicht geschaffen, das zum Himmel aufschaut.“ Sorokin reist durch das erdegewordene Profil Adolf Hitlers, passiert „Die Stirn“ und „Die Nasenwurzel“, nach sechsstündigem Warten wird der Zug in Braunau auf „Die Oberlippenrinne“ umgeschlagen. Die Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen, die Atombombe hat längst London, Glasgow, Liverpool verwüstet, die Invasion fand in New York statt...
Im zweiten Teil des Prosastücks – der Schriftsteller ist in Dachau angekommen, man hat ihn begrüßt – sind die Tage parzelliert wie die Folter- und Todeszellen des KZs. Fortan wird der Erzähler einem Tagesplan, einem Regiment unterworfen, in dem sich die Exerzitien des Loyola mit den Martern aus Apollinaires „Elftausend Ruten“ treffen. Der Folterknecht ist eine Frau, doppelköpfig und in schwarzer Gestapo-Uniform: ein siamesischer Zwilling aus Gretchen/Margarethe, die eine so romantisch liebreizend, weißblond und schweigsam wie die andere neusachlich-grausam, schwarzblau und kruppstahlhart. Sie pissen dem Schriftsteller ins Gesicht, zwingen ihn, die Schenkel eines russischen Mädchens zu essen und anschließend Raskolnikows Beichte zu wiederholen, stecken ihm einen Pfropfen in den After...
Jeder Tag bringt eine neue Kammer, eine neue Position, neue Tortur. Und niemand anders als der revolutionäre Lenin schreibt dem Dichter das credo quia absurdum, die Bejahung des Schreckens als Gebetsspruch, ins neue Brevier. „MANSOLLSICHNICHTDEMEITRIGENWAHNSINNIGENVERWESENDENVOMBLUTIGENSPERMADERG EWALTTROPFENDENSCHWANZDESTOTALITARISMUSWIDERSETZEN,MANSOLLSICHIHMMITGENU SSUNDMITGEWINNFÜRDIEALLGEMEINHEITHINGEBEN.“
Vladimir Sorokins Prosa ist kataplektisch, aphasisch, obsessiv. Sie gehört zusammen mit den Erzählungen ihres „geistigen Vaters“ Jurij Mamleew (in der letzten Ausgabe der Zeitschrift Schreibheft auf deutsch) zu dem Verstörendsten, was im letzten Jahr in Deutschland zu lesen war.
„Ein Monat in Dachau“ ist die Geschichte eines Übergangsritus. Die zwei Systeme, die zwei Weltreiche von einst, werden festgehalten im Augenblick ihrer Transformation. Zu früh gealtert, zum Nichtstun vorherbestimmt wie Oblomow, begabt nur mit dem zähen Willen, zu leiden und für die Welt verloren zu sein, gerät der russische Schriftsteller in die Maschinerie des Ewig-Deutschen. „(Der Deutsche) schaut mich an [...], zutraulich und verständniserheischend. Was, was soll ich diesem netten Menschen antworten? [...] Daß meine Generation eingequetscht ist zwischen zwei tödlichen Mühlsteinen – den Bleiköpfen der Frontkämpfer, die Stalinisten sind, und den jungen Herostraten der Literatur, die die Russische Kultur im unheilverkündenden Widerschein ihrer eigenen Pyromanie betrachten? (...) Daß ich von Menschen mit verfaulten Köpfen träume? Daß ich abends meine eigenen Hände nicht mehr sehen kann? Daß ich Angst habe vor meiner Kommode? Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, sei uns gnädig.“
Einmal abgestürzt in die Abgründe des eschatologischen Wahnsinns (Psychotherapeuten sprechen gerne sachlicher vom katathymen Bildererleben), gibt es keine Rettung von außen. Was bleibt ist die Signatur der totalitären Systeme, die sich in den Körper für immer eingeschrieben hat – Sprache.
Vladimir Sorokin, der seit Anfang der siebziger Jahre zusammen mit Dimitrij Prigow, Lew Rubinstein und Andrej Monastyrskij zur Gruppe der „Moskauer Konzeptualisten“ gehörte und – in Anlehnung an die Begriffe „Sozialistischer Realismus“ und „Pop-Art“ – zu den Soz-Artisten gezählt wird, ist ein Fronarbeiter auf dem Trümmerfeld der ideologisch gewordenen Sprachen: sowjetischer Marxismus-Leninismus-Stalinismus, Nazi-Deutsch, Astrologensprache, russisch-orthodoxes Gemurmel.
Sorokin behandelt die russische Sprache als weiblichen Körper. Eine Sprache, die seit dem Ersten Weltkrieg von deutschen Worten wie „Rucksack“, „Kanister“ und „Ersatzbrot“ penetriert wird. So weit geht die sprachliche Vergewaltigung, so unerbittlich trainiert Sorokin seinen Text, daß er zuletzt das deutsche Wort „Schmerz“ in kyrillischen Buchstaben schreibt, die russische Sprache zur Geburt des Bastards zwingt.
Ein semantisches Ungeheuer, ein literarischer Geschichtsunfall – Vladimir Sorokins Prosa tritt aus einem riesigen schizoiden Hintergrund hervor. Mentales Mittelalter, die letzten Idiosynkrasien der verwundeten russischen Seele, der Stupor eines selbstzerstörerischen Volkes schreiben an einem Text, der in mehreren Tiefenschichten funktioniert. Der Autor selbst ist Teil der Versuchsanordnung. Das Subjekt ist nicht Herr des Textes, sondern sein Opfer.
Im Schreckenszentrum sitzt niemand anderes als der Dichter selbst, die Runen des Totalitären auf seinem Körper entziffernd. Kein bloßer Sado-Masochismus, sieht das Ganze wie ein Versuch aus, Batailles Konzept des Heiligen und Obszönen polit-theologisch zu überflügeln. Revolutionäre Bewegung = Massenorgie. Ideologie = Pornographie.
Die Geschichte des Auges wird umgeschrieben in eine Geschichte des Ohres, in dessen Windungen die göttliche Stimme des Totalitären widerhallt. In der Erniedrigung durch die Hüter der kollektiven Orgien findet der Delinquent (Dichter/Intellektueller) schließlich seine liturgische Kommunion.
Vladimir Sorokin: „Ein Monat in Dachau“. Aus dem Russischen von Peter Urban. Haffmans-Verlag, Zürich 1992, 48 Seiten, 29 DM
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