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Apathie und Dolce vita

„Die Etrusker und Europa“: Die Pariser Ausstellung ist jetzt in Berlin zu sehen  ■ Von Christian Gampert

Natürlich sind die Etrusker ein ferner Traum aus vergangenen Italien-Urlauben: es gibt in der toskanischen Mittagshitze keinen angenehmeren Aufenthalt als eine etruskische Nekropole, wo man nicht nur anschauen kann, mit welchen Bildern und Hoffnungen diese vorchristliche, vorrömische Gesellschaft ihre Verstorbenen ins Jenseits begleitete, sondern wo man sich selber seltsam frisch und sicher fühlte. Manche Leute haben ihr halbes Leben an solchen Orten verbracht: Jacques Heurgon zum Beipsiel, der französische Etruskologe, der mit „La Vie quotidienne chez les Etrusques“ 1961 die erste Sozialgeschichte dieser Ethnie schrieb, oder Massimo Pallottino, der im letzten Herbst die große Pariser Etrusker-Austellung konzipiert hat. Jetzt, mitten im deutschen Winter, kommt sie nach Berlin. Dort werden auch die etwas über Etrurien erfahren wollen, die noch nie in Italien waren. Und die Beziehung der Etrusker zu den Römern, von denen sie majorisiert und (bei einer gewissen Achtung für die landesübliche Kultur) dann unterworfen wurden, weist ja einige augenfällige Parallelen zum deutsch-deutschen Verhältnis der Gegenwart auf. Davon später.

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Niemand weiß, woher die Etrusker kamen. Die einen nehmen eine orientalische Herkunft an und untermauern das mit der Sage vom Königssohn Tyrrhenus, der wegen einer Hungersnot mit der Hälfte seines vorgeblich phönizischen Volkes gen Mittelitalien auswanderte, runde tausend Jahre vor Christus. Andere halten die Etrusker für die Ureinwohner der heute Toskana genannten Landschaft, die sich aber orientalischen Einflüssen gegenüber immer sehr offen gezeigt hätten.

Wie auch immer: die etruskische Epoche ist von (relativem) Wohlleben und einer weltanschaulichen Gelassenheit gezeichnet, trotz durchaus machtbewußter Politik und einer streng nach Adligen und Sklaven hierarchisierten Gesellschaft. Die Römer waren pikiert über die lockere Moral und die Rechte der Frauen, die bei den Männern an der Tafel liegen durften; Ingenieurshandwerk und die Kunst der Hermeneutik, damals von Wahrsagern, sogenannten Haruspices, als Interpretation des Vogelflugs und der Beschaffenheit von Tierlebern ausgeübt, galten als hochentwickelte Disziplinen. Den Etruskern fehlte allerdings völlig jener ausladende imperiale Ehrgeiz, mit dem später die Römer Europa beackerten; sie kümmerten sich um die kleinen Dinge – und ein bißchen dieser etruskischen Freude am Alltag ist auch in Pallottinos Ausstellung zu spüren, die wir schon in Paris besichtigt haben: keine pure Kleinodien-Versammlung wie vor einem Jahr die Salier-Schau in Speyer, sondern vor allem Gebrauchsgegenstände, ideologische Versatzstücke, architektonisches Material einer noch archaischen, den Tod integrierenden Gesellschaft. Das alles wird dargeboten in mattbeleuchteten, um die Objekte herumgebauten Kunsträumen, in denen der Besucher sich durchaus wie in einer Grabkammer fühlt. Steigen wir hinab.

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Die ersten Exponate sind Münzen und Grubenlampen: im achten vorchristlichen Jahrhundert war die Gegend um Populonia, das heutige Piombino, eine Art Industrierevier. Die Fähigkeiten, Eisen und Bronze zu fördern, daraus Rasierklingen und Schwerter, Pferdegeschirr, Helme und (in der Nachfolge der Villanova-Kultur) Beerdigungs-Kistchen, winzige figurale Plastiken und andere Kultgegenstände zu fertigen, setzt den Betrachter schon zu Beginn in gelindes Erstaunen: diese dünnen, seltsamen Figürchen könnten alle auch von Picasso oder Giacometti sein, stilisierte, deformierte Menschlein, merkwürdig maskenhaft und stumm. Der „Krieger von Lozo“ ist das Bindeglied zwischen Archaik und Moderne, Picasso hat ihn offenbar nur wiedergefunden und dann variiert: ein roboterhaftes Wesen von naiver Eleganz, geradlinig und bescheiden – die muskulösen Griechenkörper, von denen die Etrusker angeblich beeinflußt waren, scheinen da von einer anderen Welt.

Auch die Sitte, Plastiken von Mänaden und Göttern aufs Tempeldach zu montieren (ein voluminöser Nachbau des Portonaccio- Tempels ist ausgestellt), kommt uns ziemlich vertraut vor – selbst wenn die Plakatgesichter an unseren Kinopalästen nicht ganz so gut gearbeitet sind wie die etruskischen Medusen und Apollons. Und der Lituus der Auguren, ein spiralig gewundener Bronzestock, ist auch nichts anderes als ein Vorgänger des Kardinalsstabs – das Christentum klaute ja schon immer gern bei den polytheistischen Kulturen.

Über solche Parallelen könnte man nun stundenlang erzählen – die Etrusker sind uns nah und so weiter, und natürlich ist das eine Lüge. Das etruskische Weltbild ist ein mythologisches: der Teil der Ausstellung, der sich mit Schrift und Religion, Medizin und Totenkult beschäftigt, ist der bei weitem ergiebigste des gesamten Parcours – weil man da sehen kann, über wieviel Irrwege Wissen entsteht und was eine Gesellschaft zusammenhält.

Nur ein Beispiel: die etruskische Vorstellung von Heilung ist an die Materialisation des kranken Gliedes gebunden. Eine Plastik des erkrankten Körperteils, egal, ob es sich um Ohr oder Arm, Gebärmutter, Penis oder innere Organe handelt, wird der angeflehten Gottheit als Bitt- oder Dankesgabe dargeboten – und diese Nachbildungen dürften nebenbei die anatomischen Kenntnisse dieser Gesellschaft erheblich erweitert haben. Die Haruspices, die aus der Beobachtung des Vogelflugs ihre Schlüsse zogen, versuchten immerhin eine Systematik – leider am falschen Objekt. In den Städten hatten sie Priesterfunktion, das Interpretationsgeschäft war als Beruf erlern- und unter den Römern dann auch zu rein pekuniären Zwecken einsetzbar. Leider gibt die Ausstellung zu solchen Feinheiten dann nur wenig Auskünfte.

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Das liegt daran, daß auch die Forschung nur wenig weiß: die bis heute kaum entzifferbare etruskische Runenschrift ist keiner bekannten Sprachfamilie zuzuordnen, Übersetzungen sind an detektivisches Arbeiten gebunden. Fest steht, daß die Schrift den Etruskern etwas Heiliges war. Das Erlernen des Alphabets war ein großes Privileg, und das geschriebene Wort hatte magische Funktion – so sehr, daß man auch die Toten in beschriebene Laken hüllte: das Leichentuch der „Mumie von Zagreb“ ist ein ritueller Kalender, der Zeremonien zu Ehren von Jupiter, Neptun und anderen Gottheiten aufführt.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese etruskische Kroatin aber in Ägypten gestorben; und während die Etrusker zu Hause die malariaverseuchten toskanischen Sümpfe trockenlegten und orientalische Vasen imitierten, wurden Prinzengräber im böhmischen Chlum mit etruskischem Schmuck ausgestattet und in Cádiz und Marseille etruskische Amphoren benutzt. Die Handelsreisenden der Frühzeit finden nun im reisenden Museumsbeamten von heute ihren Nachfolger: die Ausstellung zeigt Exponate aus ganz Europa.

Natürlich sind die Grabbeigaben meist Standessymbole, und natürlich stammen sie von einer luxurierenden Oberklasse – von den Untergebenen erfährt man nicht viel. So kommen auch die Sklavenrevolten in der Ausstellung praktisch nicht vor. Damit fehlt eines der wichtigsten Kapitel der etruskischen Geschichte – während der langsamen Vereinnahmung durch Rom versank der etruskische Adel in Apathie und Dolce vita, was in Arezzo und Oinarea (vermutlich Volterra oder Orvieto) zu Aufständen führte; Livius hat diese welke Oberschicht beschrieben. In Volsinii, in der Nähe des heutigen Bolsena, beteiligte man die weitgehend emanzipierten Sklaven dann (280 vor Christus!) aus lauter Müdigkeit sogar an der Regierung – mit dem Ergebnis, daß die Freigelasssenen das Land unter sich verteilten und den dekadenten Reichen jegliche Politik untersagten. Erst Rom stellte dann die ihm eigene Ordnung wieder her.

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Die Intellektuellen jedoch scheinen in Etrurien eine gewisse Wertschätzung genossen zu haben: man ehrte sie bisweilen mit Denkmälern. In eigentümlich unbequemer Stellung liegt Laris Pulena, ein

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Priester und Schriftgelehrter des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, als Steinskulptur auf seinem Sarkophag – auf den Ellenbogen gestützt und mit den Akzidenzien seines Berufes versehen. Während der leptosome Pulena noch so etwas wie Würde bewahrt, hat eine andere, unter dem Titel „Der Dicke“ bekanntgewordene Alabasterfigur sich wohl ausschließlich irdischen Genüssen hingegeben. Der wampige Herr stammt allerdings schon aus der Zeit der römischen Besatzung, in der die Großgrundbesitzer weiter ihre Latifundien verwalten durften: ein Reichtum ohne politische Gestaltungsmöglichkeiten.

Die liegende Sarkophagstellung hat sich dann bis zur Renaissance gehalten; und die etruskischen Sitten wurden auch von den Römern begierig übernommen. Man kann diese Art der Vereinnahmung nur sehr bedingt mit dem vergleichen, was unter dem Titel Wiedervereinigung derzeit in Deutschland stattfindet – immerhin scheint die Romanisierung der etruskischen Städte ein geschichtlich eher seltener Verständigungsprozeß gewesen zu sein: die Besatzer kamen, um zu lernen.

Nur für das Geschäft der Intellektuellen, die Wahrsagekunst, hatte das fatale Folgen: sie verkam derart zur Geschäftemacherei, daß man sich sogar den Tod naher Angehöriger voraussagen lassen konnte – was dann regierungsamtlich verboten wurde. Andererseits schickten aber die Römer ihre Kinder zur Ausbildung in etruskische Familien; etruskische Kenntnisse über Hydraulik oder Weinbau wurden dankend angenommen, die Mythologie geachtet. So sind uns heute die Riten der Stadtgründung wohlbekannt, das Pflügen einer „Urfurche“ um den Ort herum; der mythische Zwerg Tages, der einem Bauern aus dem Ackerboden entgegensprang und ihn lehrte, aus den Eingeweiden der Opfertiere die Zukunft zu lesen, lebte in den libri Tagetici fort – und die wurden auch in Rom studiert und später sogar, als esoterisches Geheimwissen, dem aufkommenden Christentum entgegengesetzt.

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Man kann in einer Ausstellung nur das zeigen, was mit Exponaten auch belegbar ist. Insofern ist die mangelhafte Erwähnung der Gladiatorenkämpfe, die eine etruskische Erfindung sind, oder der athletischen Wettkämpfe verzeihlich; das Entstehen der Commedia dell'Arte aus dem sogenannten „Phersu“-Spiel („Phersu“ ist die Urform von „Person“) hätte man aber schon aufzeigen können: ein offenbar zum Tode verurteilter Nackter, den Kopf mit einem Sack verhüllt, wird bei Zirkusspielen von einer Dogge zerrissen; ein maskierter Mann, ein Vorgänger des Harlekin, hielt den Todgeweihten an einer Leine. So jedenfalls zeigt es das Wandgemälde im tarquinischen „Grab der Auguren“, das für die Ausstellung offenbar nicht verfügbar war. Die seltsame Vermischung von Grausamkeit mit Lächerlichkeit, die Entladung eines nervösen Publikumslachens als Abwehr von Mitleid und Todesangst interpretiert der Etruskologe Jacques Heurgon als Geburtsstunde der italienischen Komödie: „Phersu“ ist der Ahne der etruskischen Dämonen.

Auch die Commedia treibt später ihre Scherze mit den Urängsten ihrer Zuschauer – die etruskischen Vorformen der Commedia-Figuren kann man leider nur in den bäurischen Pantalone-Gesichtern der „Urne von Volterra“ erkennen. Ausgiebig belegt sind dagegen Tischsitten und Vergnügungen (durch das Triclinium-Grab in der Rekonstruktion von Carlo Rupi), Beerdigungsriten und Jenseitsvorstellungen: praktischerweise fuhr man mit dem Ochsenkarren zur Hölle. Sehr schön zeigt die Ausstellung auch die Imitation etruskischer Kunst durch die Römer (am augenfälligsten in der Nachahmung eines bronzenen Thronsessels) und die ideologische Nutzung der Etruskerkultur durch die Dynastie der Medici im Mittelalter.

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Am Ufer des Trasimenischen Sees hatte man nämlich um 1550 die Figur eines etruskischen „Redners“ gefunden; alsbald kam die wüste „Chimäre von Arezzo“ hinzu, ein Löwe, dem Schlange und Ziegenkopf aus dem Leib wuchsen. Indem sie sich in die Tradition der Etrusker stellten und deren Kulturgüter systematisch sammelten, suchten die Medici die eigene Bedeutung zu mehren. Dem mit der Romantik einsetzenden Interesse der Wissenschaft an den Etruskern ist dann der gesamte zweite Teil der Ausstellung gewidmet: visuell nicht sehr reizvoll, aber immerhin stellt hier eine ganze Universitätsdisziplin die eigene Geschichte zur Debatte. Die Erforschung der etruskischen Grabstätten, der Tumuli, durch die sich etablierende Archäologie setzte Vergleichspunkte zu den in Mitteleuropa als Vorbildkulturen betrachteten Griechen und Römern, und die Einflüsse etruskischer Kunst, so lernt man mit Verwunderung, reichen bis zu den Kaffeetassen der französischen Königin Marie-Antoinette, die dann unter der Guillotine starb, und den Vasen der Königlichen Porzellanmanufaktur Friedrich des Großen, welche die zylindrischen Formen etruskischer Beerdigungskistchen wiederaufnahmen. Aber all das ist zweitrangig neben der entspannten Ruhe der etruskischen Wandgemälde und Grabkammern (das Triclinium-Grab ist in der Ausstellung maßstabgerecht nachgebaut): man steht in einem Bühnenbild, einem transitorischen Raum. In meiner Erinnerung taucht der lächelnde Hermeskopf wieder auf, der Götterbote neben dem Portonaccio- Tempel, und der bunt bemalte, tönerne „Sarkophag der Eheleute“: ein sanft beieinanderliegendes Paar, dezent gekleidet und offenbar bester Laune. In Paris hatte jemand beiden ein Metro-Ticket in die schützende Vitrine geschoben. Schon wahr: man hätte ihnen gerne Paris gezeigt. Oder Berlin.

„Die Etrusker und Europa“: Di.–So., 10–19 Uhr. Bis 31. Mai 1993. Katalog: 520 Seiten, 48 DM; Kurzführer: 5 DM

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