Vermeer
Keine geschützte Welt... Auf der andern Seite der Wand beginnt der Lärm
beginnt das Wirtshaus
mit Lachen und Pöbeln, Zahnreihen, Tränen, dem Dröhnen der Glocken
und dem geistesgestörten Schwager, dem Todbringer, vor dem alle zittern
müssen.
Die große Explosion und das verspätete Trappeln der Rettung,
die Schiffe, die sich auf der Reede spreizen, das Geld, das dem Verkehrten
in die Tasche kriecht,
Forderungen, die auf Forderungen gestapelt werden,
klaffende rote Blütenkelche, die Vorahnungen von Krieg ausschwitzen.
Von dort und quer durch die Wand in das helle Atelier,
in die Sekunde, die in Jahrhunderten leben wird.
Bilder: sie heißen „Die Musikstunde“
oder „Die Briefleserin“ –
sie ist im achten Monat, zwei Herzen strampeln in ihr.
An der Wand dahinter hängt eine knittrige Karte von Terra incognita.
Ruhig atmen... Ein unbekannter blauer Stoff ist an die Stühle genagelt.
Die Goldnieten flogen mit unerhörter Geschwindigkeit herein
und hielten plötzlich ein
als wären sie nie andres gewesen als Stille.
Es saust in den Ohren von Tiefe oder Höhe.
Das ist der Druck von der andern Seite der Wand.
Er bringt jede Tatsache zum Schweben
und macht den Pinsel fest.
Es tut weh, durch Wände zu gehn, man wird davon krank
aber es muß sein.
Die Welt ist eins. Aber Wände...
Und die Wand ist ein Teil von dir selbst –
man weiß es oder weiß es nicht, doch es gilt für alle,
nur für kleine Kinder nicht. Für sie keine Wand.
Der helle Himmel hat sich schräg zur Wand gestellt.
Es ist wie ein Gebet zur Leere.
Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu
und flüstert:
„Ich bin nicht leer, ich bin offen“.
aus: Für Lebende und Tote (1993)