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Kein Ökonomist

Adolph Lowe wird heute 100 Jahre alt  ■ Von Claus-Dieter Krohn

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges veröffentlichte der 21jährige Adolph Löwe (damals noch mit Pünktchen auf dem o) sein erstes Buch mit dem Titel „Arbeitslosigkeit und Kriminalität“. Vor kurzem ist sein letztes Buch in deutscher Übersetzung erschienen: „Hat Freiheit eine Zukunft?“ Dazwischen liegen mehr als 75 Jahre Leben eines Wissenschaftlers und zeitkritischen Kommentators: zuerst in Deutschland, dann in Großbritannien und schließlich in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Nicht zufällig hat die junge Universität Bremen ihren ersten Ehrendoktor 1983 an Lowe verliehen. 1990 machte ihn die Universität Frankfurt zum Ehrensenator. Jene Universität, von der er, der Sozialist und Jude, 1933 vertrieben worden war, erinnerte sich nach mehr als fünfzig Jahren an ihr früheres Mitglied.

Die Karriere des frisch examinierten Juristen begann während der Novemberrevolution als Referent des ersten Arbeitsministers der Weimarer Republik und als Mitarbeiter der Demobilmachungsbehörden. Anfang der zwanziger Jahre findet man ihn im Reichswirtschaftsministerium und im Statistischen Reichsamt, ehe er 1926 als Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften, wie es damals hieß, zur Universität Kiel wechselte und dort zugleich die Forschungsabteilung des Weltwirtschaftsinstitutes aufbaute. 1931 wurde er Nachfolger auf dem Lehrstuhl Carl Grünbergs in Frankfurt, während Max Horkheimer, der Freund seit gemeinsamen Stuttgarter Schuljahren, auf einem neu eingerichteten Lehrstuhl für Philosophie die Leitung des von Grünberg gegründeten Instituts für Sozialforschung übernahm. Am 1. April 1933, dem Tag des ersten inszenierten Juden-Boykotts, floh Adolph Lowe aus Hitler- Deutschland. In den folgenden Jahren lehrte er Politische Philosophie an der Universität Manchester, bevor er 1940 – jetzt als Adolph Lowe – nach New York ging, wo er bis zu seiner Emeritierung an der New School for Social Resarch wirkte.

Geprägt von den wirtschaftspraktischen Zwängen nach dem Ersten Weltkrieg, als die Überführung der Kriegswirtschaft in die Friedensproduktion zur wichtigsten Herausforderung für die junge Weimarer Republik wurde, sollte sich Lowe nie als Nur-Gelehrter verstehen; zahlreich sind seine Bemerkungen zur Sterilität der Wissenschaft im Elfenbeinturm. Er entwickelte fortan ökonomische Ordnungs- und Handlungskonzepte, deren stabilitätspolitische Ziele auf die weitere Absicherung des demokratischen Staates gerichtet waren. Seine weiteren Arbeiten umfaßten konjunktur- und wachstumstheoretische Analysen, vor allem aber das Technologieproblem mit seinen gesellschaftspolitischen Folgen, etwa der Arbeitslosigkeit oder der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Fragen, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Ausgangspunkt von Lowes Denken, das vor allem in seinem Hauptwerk „On Economic Knowledge“ 1965 (dt. „Politische Ökonomik“) Ausdruck gefunden hat, ist das Spannungsverhältnis zwischen emanzipatorischen Freiheitsforderungen, wie sie seit der Aufklärung formuliert worden waren, und der Schaffung einer stabilen und gerechten Sozialordnung. Im Prozeß der Liberalisierung seit dem 18. Jahrhundert seien mehr Fesseln als je zuvor in der Menschheitsgeschichte zerbrochen worden, das emanzipatorische Ziel aber erscheine vor dem Hintergrund der vielfältigen technologischen Bedrohungen heute weiter denn je zu sein. Die Ursachen dafür sah er in der a priori angelegten und bis in die Gegenwart fortwirkenden Selbsttäuschung der bürgerlich-liberalen wie auch der späteren sozialistischen Freiheitsphilosophie. Der liberale Harmonieglaube an die individuelle Selbstregulierung habe nicht nur innovative Kräfte freigesetzt, sondern auch die Grundlagen für die modernen Selbstzerstörungen geschaffen. Außerdem hielt Lowe es für einen Selbstbetrug anzunehmen, daß allein die individuelle Verfolgung von Eigeninteressen zu dem rasanten Aufstieg des Industriekapitalismus geführt habe. Möglich sei das nur gewesen, weil zuvor die Infrastruktur durch den absolutistischen Verwaltungsstaat bereitgestellt worden sei. Und bis heute könnten die Märkte allein durch ständige Eingriffe der öffentlichen Hand aufrechterhalten werden. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hätten die liberalen Verheißungen endgültig fragwürdig gemacht. Sozialistische Planungskonzepte hielt Lowe gleichfalls für ungeeignet, das ursprüngliche Emanzipationsziel zu verwirklichen, weil bereits im Kern der Marxschen Analyse auf die institutionelle Garantie von Freiheitsrechten zugunsten einer quasi eschatologischen Geschichtserwartung verzichtet worden sei. Sozialistische Planung habe sich daher im wesentlichen auf die Entfaltung technischer Produktivkräfte konzentriert, wobei der Mensch vergessen worden sei.

Einen denkbaren Ausweg umschrieb Lowe mit dem Schlüsselbegriff der spontanen Konformität. In ihm spiegelt sich zugleich der Erfahrungsgewinn, den der ehemalige deutsche Sozialist nach der Emigration in der angelsächsischen Gesellschaft gemacht hatte, und der seine wissenschaftliche Arbeit nachdrücklich prägte. Hatte er im Deutschland der zwanziger Jahre eine politische Kultur der Lagermentalitäten und gegenseitigen Feinderklärungen erlebt, in der die Gesellschaft nur autoritär vom Staat zusammengehalten wurde, so faszinierte ihn – und auch andere Emigranten – im damaligen Großbritannien, später auch in den Vereinigten Staaten, die horizontale Selbstverpflichtung und Selbstbindung der Bürger im Alltag, kurz das, was hierzulande seit einigen Jahren als Zivilgesellschaft diskutiert wird.

Die spontane Konformität ist bei Lowe Kern eines ausdifferenzierten Ordnungsmodells, das auf organisatorische und verhaltensmäßige Änderungen zielt, um Freiheit mit gesellschaftlicher Stabilität vereinbar zu machen. Sie verbindet die antiinstitutionellen Elemente angelsächsischer Selbstregulierung mit den institutionellen Vorgaben organisierter Planung nach deutscher staatswirtschaftlicher Tradition. Dogmengeschichtlich unterscheidet sich Lowes Ansatz von den traditionellen ökonomischen Denkrichtungen mit ihrem engen Horizont der Arbeitsgesellschaft und der ökonomischen Reduktion des Menschen allein auf den Maximierungstrieb. Lowe dagegen gewahrt bei den Menschen viel breitere Präferenzen. Diese Bedürfnisse zu realisieren ist für ihn nicht nur eine ökonomische, sondern mehr noch eine politisch-soziale Frage. Deshalb sollten die künftigen Entwicklungspfade im demokratischen Willensbildungsprozeß bestimmt werden, wobei die Ökonomie lediglich instrumentelle Funktion bei der Realisierung der im öffentlichen Diskurs definierten Ziele habe. Mit unverändertem Engagement zeigte der mehr als Neunzigjährige noch in seinem letzten Werk, wie solche Entwicklungen aussehen könnten und mit welchen Mitteln sie einzuleiten seien.

Unmittelbare Bedeutung hat das Werk Lowes gerade heute vor dem Hintergrund des zusammengebrochenen Sozialismus sowjetischer Prägung. Wer glaubt, sich künftig mangels Alternativen nur noch affirmativ zum westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verhalten zu können, wird bei Lowe eine Fülle von nachdenklichen Hinweisen finden, wie es um dessen Freiheitschancen bei Fortschreibung des derzeitigen Status quo steht. Heute wird Adolph Lowe hundert Jahre alt.

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