Franzi auf dem Eis

Die erst fünfzehnjährige Tanja Szewczenko gilt als das größte deutsche Eiskunstlauftalent aller Zeiten  ■ Von Holger Gertz

Früher waren ihr selbst die kleinsten Schuhe zu groß. Als sich Tanja Szewczenko zum ersten Mal aufs Eis wagte, mußte sie drei Paar dicke Socken übereinanderziehen, damit ihr die Schlittschuhe nicht von den Füßen rutschten. Die kleinsten Schuhe, die aufzutreiben waren, hatten Größe 27. Tanja aber, zwei Jahre alt damals, hätte Größe 24 gebraucht.

Dreizehn Jahre ist das her; inzwischen hat Tanja Sczewczenko Größe 38 und ist auf dem Weg, ein Star zu werden im Eiskunstlauf. Dritte war die Düsseldorferin bei der Junioren-WM in Seoul, Dritte bei der Deutschen Meisterschaft. Seit sie im Januar bei der EM in Helsinki Platz vier belegte und sich damit für die am Dienstag beginnende Weltmeisterschaft in Prag qualifizierte, verglichen sie die Boulevardblätter bereits mit der anderen juvenilen Lichtgestalt des deutschen Sports, der Schwimmerin Franziska van Almsick: „Tanja Szewczenko – das ist Franzi auf dem Eis.“

Wie man die Leute für sich einnimmt, weiß Tanja: Wichtiger als geglückte Sprünge, sagt sie, sei die Ausstrahlung, „nett mußt du aussehen, locker sein, elegant laufen.“ Kämpferinnen vom Zuschnitt ihrer Dortmunder Kollegin Marina Kielmann zählt sie nicht zu ihren Vorbildern. Schließlich wird die allenfalls geachtet vom Publikum, Tanja aber will eine Künstlerin sein, die die Leute lieben.

Ihr Tagesablauf ist durchgeplant, wie der aller Frühbegabten. Morgens um halb sieben raus aus den Federn, von acht bis eins ist Schule – Tanja besucht die neunte Klasse des Düsseldorfer Rückert- Gymnasiums. Danach Mittagessen zu Hause, anschließend Fahrt nach Dortmund ins Bundesleistungszentrum zum dreistündigen Üben. Zweimal die Woche kommt der Masseur, zweimal der Balletttrainer, am Wochenende „tüfteln wir an der Choreographie“. Vor elf ist sie nie im Bett, Hausaufgaben erledigt sie in der knappen Zeit, die bleibt. Mahnern, die vor allzu großem Stress warnen, vor dem Verlust von kostbaren Jugendjahren sogar, hält Tanja die eigene Begeisterung entgegen. Aufregend sei die Reiserei, interessant die fremden Länder. Und das Training? „Naja, das schlaucht schon, aber eigentlich mache ich das auch ganz gerne.“

Und freiwillig, darauf legt sie Wert. Kein geschäftstüchtiger Manager, der an der Karriere bastelt, keine ehrgeizigen Eltern, die sie hinaustreiben auf das Eis. Dazu hätten die auch keine Zeit, weil sie sich um ihr Taxiunternehmen kümmern müssen, das die Existenz der Familie sichert. Noch nie haben die Eltern Szewczenko die Tochter zu einem Turnier begleitet. Bei der Weltmeisterschaft werden sie das erste Mal live dabeisein: „Nach Prag ist es ja nicht so weit, da können sie nachkommen“, sagt Tanja.

Auf ihre nervliche Befindlichkeit wird sich die Anwesenheit der Eltern nicht auswirken, genausowenig wie die Gewißheit, vor Millionen am Bildschirm Pirouetten zu drehen. Trainer Peter Mayer rühmt „ihre Ruhe, die ungewöhnlich ist in diesem Alter“. Und Tanja selbst kann sich nicht erinnern, irgendwann mal nervös gewesen zu sein, im Leben nicht und erst recht nicht auf dem Eis. Wenn die Musik einsetzt, geht sie raus und läuft. Und wenn sie stürzt bei einem Sprung, ist das zwar ärgerlich, aber noch lange keine Katastrophe: Den Kopf abreißen werde ihr deshalb keiner.

Alles bestens also, Tanja Szewczenko fühlt sich wohl in der Rolle der „Prinzessin, die Sahnetupfer aufs Eis setzt“(Süddeutsche Zeitung). Und sie übt sich in Volksnähe: Gern erfüllt sie die fünf, sechs Bitten um ein Autogramm, die täglich mit der Post bei ihr eingehen, „neulich wollte sogar einer aus den USA eins haben“. Die Plüschtiere, die ihr die Zuschauer nach der Europameisterschaft zu Dutzenden entgegenstreckten, hütet sie daheim: „Ich fand das nett von den Leuten.“ Und wenn mal einer versucht, das Glück zu trüben, wie zum Beispiel jener, der kürzlich bei der Welt anrief und verlangte, „diese hergelaufene slawische Kringeldreherin“ nicht länger als Deutsche zu bezeichnen? Einzelfälle seien das, sagt sie, deren Familienname vom ukrainischen Urgroßvater stammt: „Ich glaube, daß mich die meisten Leute mögen.“

Die Zuschauer in Prag werden das auch tun, und einige werden insgeheim hoffen, daß sie eine Medaille gewinnt, zumindest in der Nähe der ersten Drei landet. Noch keine deutsche Läuferin, loben die Experten, sei schließlich in so jungen Jahren schon so gut gewesen. Dagmar Lurz nicht, Claudia Leistner nicht, noch nicht einmal Katharina Witt.

Früher waren selbst die kleinsten Schuhe zu groß für Tanja Szewczenko. Und heute, so scheint es, sind die größten gerade groß genug.