: Vormittags bei Lech Walesa im Belvedere
Sentimental Journey einer Delegation von Bündnis90/Grüne ins Warschau des Umbruchs ■ Von Christian Semler
„Wir sind alte Freunde! Ihr seid herzlich aufgefordert, mich auf meinem Schloß zu besuchen!“ König Lech hatte bei seinem letzten Besuch in Bonn dem Bündnis 90/Grüne diese huldvolle Einladung nach Warschau zukommen lassen. Sie fiel auf fruchtbaren Boden. Ende Februar machte sich eine Delegation der ehemaligen Bürgerrechtler auf den Weg, um dem polnischen Staatspräsidenten und Politikern aller Couleurs ihre Aufwartung zu machen. Der Termin war gut gewählt. Er folgte der Budapester Konferenz, die die Regierungen Osteuropas den Asylanten-Abschiebewünschen unserer Regierung gefügig machen sollte, auf dem Fuß. Die Delegation des „Bündnis“ brachte für die Gespräche eine Qualifikation besonderer Art ein: alle Teilnehmer waren schon in den 70er und 80er Jahren der demokratischen Opposition in Polen verbunden gewesen.
Welch eine Differenz zwischen der bürokratischen Tristesse des Bonner Tulpenfeldes, wo das „Bündnis“ seine oppositionelle Existenz fristet, und dem heiteren Belweder (gleich Belvedere), dem Amtssitz Walesas am Rande des Lazienki-Parks. Das Lustschlößchen war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre unter General Jaruzelski Schauplatz der verschwiegenen Verhandlungen, an deren Ende der „runde Tisch“ und der Abschied der Realsozialisten von der Macht standen. Mit dem General, im Dezember 1989 Vorsitzender des Militärrats zur Rettung der Nation (polnisch abgekürzt Wron), haben die Polen ihren Frieden geschlossen. Und keiner der Müßiggänger, die heute zu Füßen des Belweder lustwandeln, denkt beim Anblick der zahlreichen, herumhüpfenden Krähen (polnisch wrona) noch an das einst so beliebte Wortspiel Wrona-Wron.
Walesa empfängt die Delegation des „Bündnis“ im stilsicheren Ambiente — im „grünen Saal“. Was folgt, ist eine zweistündige Performance des Präsidenten in jener unnachahmlichen Mischung aus majestätischem Gestus, Hellsichtigkeit, spontanem Witz und Stammtischgebrabble, die die polnischen Intelektuellen regelmäßig zur Verzweiflung treibt. Der Präsident malt die politische Lage im Osten Europas in grau-schwarzen Farben. Schon eine stabile Entwicklung Rußlands berge Gefahren für Ostmitteleuropa, jetzt aber herrscht dort das Chaos und es droht ein Comeback der diktatorischen Kräfte. Deutschland muß den Blick nach Osten richten und mit Polen einen festen Verbund bilden, um die Region zu zivilisieren, zu „veredeln“. Dies aber ist nur möglich, wenn die demokratischen Institutionen Polens mit westlicher Hilfe auf sicherem ökonomischen Fundament errichtet werden. Es gilt, die Nationen Ostmitteleuropas rasch an den EG- Blutkreislauf anzuschließen. „Sonst kriechen die Dämonen aus den Löchern“. Für Walesa wird die russische Politik wieder hegemonistisch sein. Er imaginiert einen Telefonanruf Jelzins an Clinton: „Mr. President, ich werde meiner Armee nicht mehr Herr und muß sie loswerden. Sie hat Marschbefehl in Richtung der baltischen Staaten, Polens und Ostdeutschlands. Bitte um Verständnis. Clinton versteht – und nicht nur das: Er schlägt Jelzin für den nächsten Friedens-Nobelpreis vor.“
Der Präsident legt ein geradezu feierliches Bekenntnis zur Freizügigkeit in Europa ab, um es im nächsten Augenblick den Erfordernissen der Stabilität Deutschlands wie Polens anzupassen. „Wir wollen keine Schlagbäume, aber wenn es keine gibt, werden wir alle unter den Zug kommen.“ „Jesus Maria“, entfährt es ihm, als seine Rede sich von Ost auf Fernost ausdehnt. „Als nächste kommen die Chinesen, sie werden uns alle auffressen!“ Walesa ist im Zwiespalt. Er tritt für Dreiecksverhandlungen zwischen den Ursprungsländern der Emigration, den Transitländern und den Zielländern ein, bei denen keiner der Partner über den Tisch gezogen wird. Aber was wird deren Ergebnis sein? Die deutsche Diplomatie hat angedeutet, daß alle „Drittstaatler“, die über Polen legal in die BRD eingereist sind bzw. die „Illegalen“, die anschließend einen (erfolglosen) Asylantrag gestellt haben, nicht nach Polen abgeschoben werden. Das entschärft für Warschau fürs erste das Problem der „Rücknahme“. Für die Zukunft allerdings steht die polnische Regierung unter sich verschärfendem Druck, ihre Ost- und Südostgrenze dichtzumachen. Die Alternative lautet nur noch: erschwerte Einladungen oder Visumzwang, wobei Außenminister Skubiszewski später gegenüber dem „Bündnis“ offenlassen wird, ob er sich mit der „liberalen“ Variante noch werde durchsetzen können. Walesa und sein Außenminister wollen mit ihrem Projekt der „Euroregionen- Ost“ – jetzt in den Karpathen, morgen am Bug – die Ost- und Südgrenze durchlässig machen, der multilateralen Kooperation den Weg ebnen. Wie aber soll dieser Vorgriff auf ein Europa der Regionen mit Walesas Absicht unter einen Hut gebracht werden, „die Emigration zu stoppen und den Überhang zu liquidieren“?
Die Manöver des polnischen Präsidenten lassen die Delegation des Bündnis etwas ratlos zurück. Die Bürgerbewegten glauben felsenfest an ein gemeinsames Vorverständnis zwischen ihnen und ihren polnischen Freunden, an einen Grundkonsens, gestiftet in den Jahren des Kampfes gegen die realsozialistische Diktatur. Für die aus der Solidarność hervorgegangenen Parteien hingegen bedeutet die gemeinsame Geschichte mit den DDR-Deutschen nichts als eine freundliche Reminiszenz. Sie sind nolens volens auf die westdeutsche Gesprächs- und Verhandlungsachse fixiert. Deshalb auch weisen sie der Delegation aus Bonn die Kompetenz fürs praktisch Grüne zu. Sie wollen über deutsche Beteiligungen an transnationalen Öko-Projekten diskutieren. Nicht daß Vorschläge dieser Art dem „Bündnis“ gleichgültig wären. Noch mehr aber interessiert es sich für die gesellschaftliche Verwurzelung solcher Projekte „vor Ort“. Es ist fasziniert von institutionellen Lösungen für die Bürgerbeteiligung wie dem „ökologischen Rat“ beim polnischen Staatspräsidenten. Für Walesa ist das ein praktisches Instrument, nicht mehr. Ihn faszinieren andere Dinge, die zu verwirklichen das Bündnis wenig beitragen kann.
Wolfgang Ullmann, der einen Tag lang das rotierende Amt des Delegationsleiters innehat, versichert, man sei gekommen, um zuzuhören. Aber eigentlich drängt es die ehemaligen Bürgerrechtler danach, die eine große Frage zu diskutieren: Wie kann das demokratische Erbe der 1989er Revolution in die Marktgesellschaften hinübergerettet werden? Die Delegation eilt von Parteiengespräch zu Parteiengespräch, grenzt klugerweise auch die EG-feindlichen Gruppen der nationalistischen Rechten nicht aus, versucht, auszuloten, wie weit die Nach-Solidarność-Formationen auseinandergedriftet sind. Aber in den drei hektischen Gesprächstagen will sich einfach keine Situation einstellen, in der gemeinsam die Bilanz der Jahre nach 1989 gezogen würde. Ullmannn, Poppe, Schulz und seine Freunde fühlen sich als Gefangene eines erstarrten Parteiensystems. Die Aktivisten der Post- Solidarność-Parteien hingegen suchen nach parlamentarischer Stabilisierung des gesellschaftlichen Umbruchs, der immer anarchischer, immer unkontrollierbarer wird. Das Problem ist, daß beide Haltungen berechtigt, gegenwärtig aber kaum vermittelbar sind.
Wird einmal auf die postkommunistischen deutschen Erfahrungen rekurriert, wie im Gespräch mit dem „Durchleuchtungsausschuß“ des polnischen Parlaments, so geschieht das nicht ohne aktuelle taktische Hintergedanken. Antoni Macierewicz, der nationalistische Kommunistenfresser, will unbedingt die Gauck-Behörde als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft definiert wissen. Er sucht die Erfahrungen des „Bündnis“ im Umgang mit den „alten Strukturen“ für die Zwecke der Hexenjagd zu instrumentalisieren . Aber auch im herzlichen Gespräch mit Gleichgesinnten, wie im Verfassungsausschuß des Sejm, verhalten sich die Diskussionsteilnehmer wie Reisende, die sich aus zwei Zügen mit entgegengesetzter Route zuwinken. Hier, auf dem ureignen Terrain der Väter (es waren mit Ausnahme Elisabeth Webers nur Väter anwesend) des DDR-Verfassungsentwurfs wäre es wirklich an der Zeit gewesen, ein paar Argumente über das Verhältnis von Staat und „Bürgergesellschaft“ auszutauschen. Auch dort, wo sich diese Thematik aufdrängte, etwa bei der Diskussion der künftigen territorialen Selbstverwaltung, sprang kein Funke über. Zu unterschiedlich die Realität des deutschen föderativen Systems gegenüber der Lage Polens, wo sich der Einheitsstaat dezentralisieren und „regionalisieren“ muß. Wie wenig den Polen zur Zeit der Sinn nach Grundsatzdiskussionen steht, zeigte schließlich das Gespräch mit der linken „Unia Pracy“. Die bislang einzige landesweiten Bürgerinitiative nach Solidarność, die die Kampagne zu einem Referendum gegen das Abtreibungsgesetz auf den Weg brachte, tut das Thema nur mit einigen Seitenbemerkungen ab.
Paradoxerweise wurde diese Sequenz freundschaftlichen Aneinandervorbeiredens ausgerechnet beim Besuch einer Institution durchbrochen, die ihre Existenz noch dem zerfallenden Realsozialismus verdankt: dem polnischen Ombudsman für den Schutz der Bürgerrechte. Der jetzige Amtsinhaber Tadeusz Zielinski trat im Februar 1992 die Nachfolge der furchtlosen Ewa Letowska an, die dem Amt zu landesweiten Ansehen verholfen hatte. Zielinskis Kompetenzen sind, an westlichen Maßstäben gemessen, umfassend. Sie erlauben ihm sogar die Normenkontrollklage beim Verfassungsgericht in Fällen, wo seiner Meinung nach ein Gesetz den Menschen- bzw. Bürgerrechten widerspricht. Zielinski hat von dieser Möglichkeit mehrfach, so bei dem Gesetz über den obligatorischen katholischen Religionsunterricht, Gebrauch gemacht. Seine Beauftragten inspizieren die Gefängnisse, die Heilanstalten, Polizei und Armee – unangemeldet. Hier, in einem nüchternen Saal, dem Farbdrucke Wassily Kandinskys jede Spur feierlichen Pomps nehmen, blitzt endlich doch der Gedanke auf, daß die Demokraten des östlichen Europa noch nicht ihr letztes Wort für den Bau einer künftigen Bürgergesellschaft gesprochen haben.
Aber wie um diese Hoffnung zu dementieren, teilt Zielinski mit, er selbst habe die Visumspflicht für Bürger Rumäniens empfohlen. „Wir sehen uns nicht in der Lage, hier ihre Menschenrechte zu garantieren.“
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