: Traum vom russischen Hongkong
Mehr als 70 Jahre nach den Aufständen gegen die Bolschewiki beginnt sich der Ostseehafen Kronstadt zu öffnen/ Der Wunsch nach einer Freihandelszone kollidiert mit militärischen Interessen ■ Aus Kronstadt Maxim Korschow
Stille Sträßchen, in denen selten einmal ein Auto fährt, alte niedrige Häuser aus den Zeiten Peter I., über alldem die Atmosphäre eines russischen Krähwinkel im 19. Jahrhundert. Nur schwer kann man sich vorstellen, daß die Inselstadt Kronstadt nur 29 Kilometer von Sankt Petersburg, dem ehemaligen Zentrum des Imperiums, entfernt liegt und zweihundert Jahre lang der Hauptstützpunkt der russischen Kriegsflotte war. Diese Stadt sei wie geschaffen dafür, um ein nördliches, russisches Hongkong zu werden, hat kürzlich Margaret Thatcher gesagt, als man ihr Sankt Petersburgs Meeresfestung vorführte.
Noch vor ein paar Jahren wäre es nicht nur für die britische Ex- Premierministerin, sondern für ZivilistInnen jeder Staatsbürgerschaft undenkbar gewesen, auch nur einen Fuß hierher zu setzen. Heutzutage kann man einen Passierschein beantragen. Alle Wege hierher kontrollieren blutjunge Soldaten in Kriegsmarine-Uniformen – sogar die Nasen frieren ihnen bisweilen marineblau.
Schon Zar Peter I. wollte Handel auf der Festung
Paradoxerweise hatte Zar Peter I., als er 1703 diese Festung in einem Zuge mit Sankt Petersburg gründete, auch eine Art Freihandelszone im Sinne. Riesige Handelsschiffe aus Amsterdam, Hamburg und Liverpool wurden in Kronstadt entladen, wo sich auch die Zollhäuser befanden. Konsulate, Banken und Firmenvertretungen säumten die Straßen. In den Kneipen tranken Matrosen aus aller Welt lärmend Bier und Wodka. Später gewannen die Militärs die Oberhand und verdrängten alles andere.
„1991, als man Jelzin zum Präsidenten wählte, haben wir hier unser eigenes kleines Referendum durchgeführt“, sagt Wiktor Alexandrow, Vorsitzender des Kronstädtischen Sowjets. „Mit einer einzigen Frage: Lohnt es sich, das Passierschein-System abzuschaffen?“ Fast 85 Prozent der Inselbewohner waren für Beibehaltung. Und Alexandrow versteht die Leute. Schließlich gebe es in dem kleinen Städtchen mit etwa 45.000 Einwohnern so gut wie keine Verbrechen und keine Anti-Terror- Einsatztruppe. „Bis zu den Perestroika-Jahren war der Lebensstandard hier bedeutend höher als in Sankt Petersburg“.
Viel Streit hat es in Sankt Petersburg um den Bau des großen Dammes nach Kronstadt gegeben, der heute eine lückenlose Barriere gegen den finnischen Meerbusen bildet. Die meisten Petersburger halten ihn für die Wurzel aller ökologischen Übel. Die Kronstädter, auch Alexandrow, sind anderer Meinung: „Früher hing unsere Verbindung zum Festland von Fähren ab, und bei Nebel konnte man die vergessen. Jetzt kommen wir bei jedem Wetter mit dem Bus wieder nach Hause.“
Für Wiktor Alexandrow ist ein viel größeres Problem, daß kein einziges der Sankt Petersburger Unternehmen über brauchbare Abwasser-Reinigungsanlagen verfüge: „Alle Abfälle ergießen sich so gut wie ungefiltert in die Newa. Der Gehalt unseres Wassers an Schwermetall-Salzen übersteigt die zulässige Norm um mehr als das hundertfache. Viele unserer Kinder sind krank.“
Bei einem Spaziergang über die stille zentrale Lenin-Straße sehe ich in einem Schulhof ein paar Kinder beim Turnen und frage nach dem Weg zum Haus der Adels- Versammlung. „Da gehen Sie bis zum Denkmal unseres Haupt- Banditen weiter und biegen dann nach links ein“, ruft mir der Sportlehrer Sergej zu. „Was für ein Bandit denn?“ – „Na, Lenin natürlich!“ Im Weitergehen höre ich die Kinder fragen: „Aber warum nennen Sie denn Lenin einen Banditen, Sergej Nikolajewitsch?“
„In Leningrad sind die Preise einfach schrecklich“, klagt die 64jährige Rentnerin Sofja Kusnezkaja. „Ich habe mein Leben lang als Kranführerin gearbeitet und bekomme nur 4425 Rubel Pension“ –, das ist das seit Januar zulässige Monatsminimum für Pensionäre, umgerechnet etwa zwölf Mark. „Deshalb kann ich nur in Kronstadt überleben.“ Dabei schlenkert sie wütend mit ihrer Einkaufstasche, um deren Griff sich fest ihre riesige Männerhand schließt. „Nur gut, daß es hier wenigstens keine Schlangen gibt. Auf keinen Fall dürfen die Passierscheine abgeschafft werden! Sonst werden wir noch alle möglichen Schweinehunde am Hals haben.“
Verhandlungen mit Sankt Petersburg
Schon seit fast einem Jahr wird hier und im Sankt Petersburger Bürgermeisteramt von einer Freihandelszone in Kronstadt geredet. Gerade findet ein Treffen von Landsleuten aus dem Ausland im Gebäude der Adelsversammlung statt.
Kronstadts Bürgermeister Wiktor Surikow, ein ausladender Mann von siebenundvierzig Jahren, ist ein bißchen angeheitert und außerordentlich gesprächig. „Gott selbst hat unsere Insel für so eine Zone geschaffen“, legt er los. „Hier haben wir die Schiffsbau- und Schiffsreparatur-Werften mit den größten Docks in Europa. Auch für den Bau von Zoll-Lagern und Fabriken zur Verarbeitung zollfreier Waren ist noch Platz da. Gleich nebenan liegt Sankt Petersburg mit seinem gigantischen naturwissenschaftlichen und industriellen Potential. Wir haben schon Fäden zu ausländischen Geschäftsleuten und soliden Banken geknüpft.“ Wiktor Surikow kann allerdings keinen einzigen der „soliden“ Namen nennen. Der Sowjet-Vorsitzende Alexandrow hält das alles für nicht so einfach: „Der Kronstädter Sowjet möchte es mit bekannten Namen zu tun haben.“
Ein größeres Hindernis als die Investoren sieht Wiktor Alexandrow allerdings in dem Abzug der „Baltischen Flotte“ aus Lettland, Estland und Litauen. Kronstadt könnte sich dann wieder zu einem großkalibrigen Flottenstützpunkt auswachsen, fürchtet er: „Es begreift doch jeder, daß für eine Flottenbasis und eine Freihandelszone nebeneinander in so einem kleinen Städtchen kein Platz ist.“ Gerüchte gibt es jede Menge. Und das russische Verteidigungsministerium wird wohl kaum bereit sein, seine Interessen zugunsten der Geschäftsleute zurückzustellen.
Mittlerweile haben sich die Schauspieler und Musiker des „Theaters der Baltischen Flotte“ aus Tallin in Estland fest in Kronstadt angesiedelt, und zwei hochmoderne Unterseeboote aus Liepaja in Lettland sind aufgetaucht. Der russische Verteidigungsminister, Pawel Gratschow, erkundigte sich: „Wie viele könnt Ihr noch aufnehmen?“ Und die Stadt hat mit der Aufnahme bereits begonnen, obwohl seine eigenen Einwohner schon unter Wohnungsnot leiden.
Die alte Kaserne aus roten Ziegelsteinen ist noch zu Zeiten PetersI. erbaut worden. Ihre Wände sind anderthalb Meter dick und können noch mehr als ein Jahrhundert lang so dastehen. In einer der Wohnungen mit sieben winzigen Zimmerchen – das größte hat 13 Quadratmeter — wohnen jetzt 20 Menschen: Offiziere eines der beiden Unterseeboote mit ihren Familien. Alle wirtschaften in der großen Küche mit fünf Gasherden und teilen sich zwei Toiletten. Nur die Kinder fühlen sich wohl und spielen auf dem langen Korridor Indianer.
Am liebsten würde er Petersburgs Bürgermeister Sobtschak im Finnischen Meerbusen ertränken, sagt einer der ranghöheren U-Boot- Offiziere. „Wir alle hatten in Liepaja noch unsere Wohnungen. Der Abzug der Flotte ging im großen und ganzen geordnet vonstatten. Und plötzlich posaunte Sobtschak auf höchster Ebene: ,Wir haben genug Platz für heimkehrende Offiziere!‘ Da wurde die Stadtverwaltung in Liepaja hellwach: ,Vorwärts, Leute, bewegt eure Hintern! In Petersburg warten sie schon auf euch, go home!‘ Dabei wartet hier kein Schwein auf uns.“
Schließlich stehe ich vor dem „Morskoj-Sobor“, der Meeres- Kathedrale. Sie wurde 1913 fertiggestellt, nach dem Vorbild der Hagia Sophia. Das Geld dafür stammte aus einer unter Matrosen und Offizieren der russischen Flotte durchgeführten Sammlung, zu der auch die Mitglieder der Zarenfamilie beitrugen. Sehr alte Leute können sich noch erinnern, daß sich hier zu Festgottesdiensten bis zu vierhunderttausend Menschen versammelten, Seeleute mit ihren Familien, der Zar, die Großfürsten. Auf schwarzen Uniformen blitzten die Kokarden, die Orden und Goldadler.
Jetzt befindet sich unter der Kuppel das Kronstadt-Museum und auf dem Platz davor ein hohes Granit-Denkmal mit einer ewigen Flamme. Hier liegen in einem Massengrab die Gefallenen der ersten Russischen Revolution von 1905 zusammen mit den Opfern der Aufstände von 1919 und 1921. Diese Erhebungen hatten unter der Parole „Sowjets ohne Bolschewiki“ gestanden. Der enthusiastische Museumsdirektor, Witalij Pirogow, erzählt: „Nach der Zerschlagung des Kronstädter Aufstandes von 1921 wurden alle Toten hier auf dem Platz zusammengetragen. Und dort war wirklich nicht mehr zu unterscheiden, wer von ihnen für die Bolschewiki gewesen war und wer dagegen. So hat man sie alle zusammen begraben. Zwölf Jahre lang hat man uns in Moskau das Mahnmal verweigert, weil man uns immer verdächtigte, es sei zu Ehren der Aufrührer geplant.“
Disco-Abende in der Meeres-Kathedrale
Neben dem Museum birgt die Kuppel einen Konzertsaal mit vierhundert Plätzen und viel sozialistischem Realismus der Breschnjew-Ära. Die örtliche Jugend veranstaltet hier Discotheken-Abende. Die Einheimischen nennen den Saal „Bei Maxim's“, weil während des Zweiten Weltkrieges an der Kathedralen-Fassade das Porträt von Maxim Gorki hing. „Die Kathedrale wird wohl kaum noch einmal Zeiten des Ruhmes erleben“, sagt traurig Vater Wladislaw, der an Sonnabenden den Versuch unternimmt, in einer kleinen Seitenkammer Gottesdienste abzuhalten: „Zu mir kommen nur noch zwanzig bis dreißig alte Frauchen. Unsere Kollekten reichen nicht einmal für kleine Reparaturen.“ Dabei würde er gerne die Fresken im byzantinischen Stil restaurieren lassen.
Das sind die letzten Eindrücke von der Inselfestung: ein trauriger Priester und junge Matrosen der russischen Flotte, die über den Platz vor der Kathedrale marschieren. Wie vor hundert oder zweihundert Jahren.
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