Violette Balken, schwarze Linien

■ Wie Kontraste die Distanz des Betrachters auflösen. Gemälde von Günter Fruhtrunk in der Berliner Nationalgalerie

Über den Zusammenhang von Medienkonsum und Körperbewegung nachzudenken lohnt sich. Wer Radio hört, kann umherlaufen, so weit der Schallkegel reicht, ohne den Kontakt zur Sendung zu unterbrechen. Dagegen zwingt das Fernsehen zum Stillsitzen. Selbst Telegymnastik kann nur aus dem Sessel heraus verfolgt werden, mit automatisch justierten Augen. Auch eine Kinoleinwand fesselt den Blick, aber sie ist gewöhnlich größer als das Gesichtsfeld, so daß die Augen wenigstens über die Fläche wandern. Beim Betrachten eines Gemäldes schließlich wird zwar der Blick auf einen begrenzten Rahmen verengt, aber weil es sich nicht verändert, läßt es sich aus verschiedenen Distanzen und Blickwinkeln ansehen.

Dieser Regel entrinnen Günter Fruhtrunks Gemälde nicht, aber erschüttern sie durch eine beständige Unruhe. Vergeblich versuchen die Augen, einen statischen Eindruck zu erhalten, aber unablässig bricht sich ihr Blick an den raffinierten Kontrasten. Komponiert sind seine Bilder aus farbigen Streifen verschiedener Breite – einige so dick wie ein Quast, andere mit dem Dachshaarpinsel gezogen. Erst in seinem Spätwerk rauht sich der Farbauftrag auf, bis dahin war die gesamte Bildgestaltung dem Erzielen eines Effekts untergeordnet. Hier verfängt der Vergleich von Musik und Malerei. Ebensowenig wie beim Musikhören das Aufschlüsseln der Notation interessiert, verlangen diese Bilder das Bestimmen ihrer Formen. Entscheidend ist die von ihnen ausgelöste Bewegung. Ein Bild nannte er denn auch „Orgelpunkt“ (1965). Es reiht versetzte violette Balken aneinander, zwischen denen schwarze Linien quasi die Obertöne auslösen. Wer diesen Linien nachspürt, die manchmal so fein sind, daß sie von den benachbarten Flächen verschluckt werden, stößt leicht mit der Nase gegen die Leinwand, denn das Distanzgefühl löst sich dabei auf.

Abseits internationaler Moden machte sich Günter Fruhtrunk ab 1951 an die Arbeit, in Paris das analytische Malen von Grund auf zu studieren. Er rechnete „Paris gleich Kunst“ (Werner Spies) und malte wie Robert Delaunay und die KonstruktivistInnen, orientierte sich auch an Fernand Léger und Hans Hartung. Von jenen lernte er das Komponieren, von diesen den Gebrauch der Farbe Schwarz und das Wechselspiel von fetten Streifen und filigranen Linien. Selten erlaubt eine Ausstellung wie diese Retrospektive den Nachvollzug einer beinahe akademisch strengen Selbstbildung. Ein weiteres Plus der Bilderauswahl und -hängung liegt darin, mit dem ebenfalls unbekannteren Spätwerk zu beginnen und den populären Fruhtrunk der sechziger und siebziger Jahre etwas zurückzunehmen. Seit Mitte der 70er Jahre wurde der Farbauftrag spröder. Durch weniger Raffinesse und mehr „Handschrift“ veränderte sich seine Bildersprache. Hatte bislang die Irritation der Farbinterferenzen die Aufmerksamkeit für sich beansprucht, erinnern seine späten Bilder an die meditative Kunst eines Rothko. Im ersten Raum hängt das monumentale „Orpheus“ (1982) mit seinen nachtfarbenen, leicht ansteigenden Balken wie ein Sargdeckel dem letzten Gemälde Fruhtrunks gegenüber, dem sonnigen „Sinnenfundament“. Dieses ist mit seinen Apfelsinenfarben so fröhlich, daß der Freitod des Künstlers, der an den Folgen einer Kriegsverletzung litt, kaum glaublich erscheint.

Zwischen den Bildern sind auf die Stellwände Fruhtrunk-Zitate geschrieben, gespreizte Philosopheme, Fragmente eines gescheiterten Brückenschlags zwischen malerischem und sprachlichem Ausdruck. Fruhtrunk, dessen Denken zwischen Sartre, Adorno und Habermas kreiste, begleitete seine Kunst mit Schriften und Reden. Vielleicht fürchtete er, daß die Anbindung seiner Bilder ans Leben nicht deutlich genug wahrgenommen wurde. Er war und blieb ein 68er, der starb, ehe ihn die Wendezeit umkrempeln konnte. Spektakulär und weltbewegend war sein Anliegen nicht – er versuchte lediglich, sein Publikum dazu zu bewegen, sich der eigenen Sehwerkzeuge bewußt zu werden. Wer beim optischen Frühjahrsputz à la Fruhtrunk Symbole und Metaphern aus den Augen wischt, wird sensibler für die Realität der Bilder. Christoph Danelzik

„Günter Fruhtrunk 1923–1982“, Neue Nationalgalerie Berlin, bis 14. März 1993, Katalog 42 DM. Weitere Stationen: Münster, Landesmuseum (28.3.–9.5.) und München, Lenbachhaus und Staatsgalerie (14.7.–5.9.)