Wenig Probleme bei den Jungs

■ Was stört, ist die Begleitmusik: Jochen Schimmangs „Carmen“

Fast 150 Jahre alt ist Carmen jetzt, und seit sie mit 28 dank George Bizet erwachsen wurde, müssen sie und ihr ach so verhängnisvoller Drang nach Freiheit immer mal wieder herhalten, wenn's irgendwo um Leidenschaft – die verzehrende Variante – gehen soll. In letzter Zeit wird man dabei den Eindruck nicht mehr los, daß besonders die Deutschen sie fest ins Herz geschlossen haben: Neulich geriet sie arg unter die Kufen einer bei jung und alt, besonders aber bei Erich Honecker beliebten Eiskunstläuferin, eine Komödiantin mit dem hübschen Namen Frau Jaschke verstopft seit Wochen mit einer populären Carmen-Variante die dritten Fernsehprogramme, keine deutsche Opernbühne ohne Repertoire-Carmen – da konnte dann auch „Holiday on Ice“ nicht mehr zurückstehen und zog mit einer eigenen Carmen-Show gleich. An Zufall will man also nicht mehr so recht glauben, wenn Jochen Schimmang jetzt ein neues Buch mit dem Titel „Carmen“ vorlegt. Um es jedoch gleich zu sagen: Er darf sich den Vergleich mit Katarina Witt ruhig verbitten.

Seine „Geschichte“ – so der Untertitel – spielt sich in den späten achtziger Jahren in, um und um Koblenz herum ab, mit Rück- und Seitenblenden in die Lebensgeschichten und Urlaubsreisen der Carmen Vasquez, Simon Simons (wer hier bereits Nabokov, Lolita und Humbert Humbert wittert, liegt so falsch nicht) und Gregor Görres.

Simon Simon, seines Zeichens Archivar, promoviert, 40 Jahre alt, streng und glücklich unter dem Bannstrahl eines selbstauferlegten Gelübdes die Enthaltsamkeit lebend (hatte er doch früher, als lockerer Student im sündigen Berlin, schwer über die Stränge geschlagen und war „immer wieder auch an die erregenden Ränder des Ruins“ getrieben, wo er doch, herrgottnochmal, „der Schwächste und Berührbarste, der Wehrloseste und Ohnmächtigste von allen war“), dieser Simon also betritt eines schönen Nachmittags ein Friseurgeschäft, um sich die Haare schneiden zu lassen, und da ist sie. Carmen.

Carmen Vasquez, Tochter von Señor und Señora Vasquez (Delikateßwarengeschäft, südeuropäisch), mit drei Jahren nach Koblenz gekommen, trieb es in ihrer Jugendrebellion zum Coiffeurhandwerk. Sie dürfte, da müssen wir raten, so um die 20 sein, trägt einen stolzen Busen durch die Stadt und hat entsprechend wenig Probleme bei den Jungs. An jenem Tag wäscht sie Simon die Haare, und das Schicksal nimmt seinen Lauf, denn in Carmens Jugend – und wie sich zeigen wird, auch in Carmens Alter – gab und gibt es einen anderen. Gregor.

Gregor Görres, „ein so wacher Geist, dazu angenehm im Wesen“, bringt es im Laufe der Geschichte zum Geliebten, Verflossenen und Schließlich-doch-Ehemann der Carmen und zum – darunter macht er's nicht – Genie. Computer. Princeton/USA.

Und so erzählt uns Jochen Schimmang in acht und einem winzigen Kapitel von den heillosen Verstrickungen des armen Archivars, dessen Feuer noch einmal entflammt wird, der noch einmal dort zulangen darf, wo's ihn schon immer hingezogen hat, wo er doch „die weibliche Brust ohnehin für ein Wunder, ein Mysterium, zusammen mit dem menschlichen Geist das größte überhaupt existierende Mysterium“ hält; vom Nehmen und Geben der „Carmen Vasquez aus Sevilla, Barbierin sozusagen!“; vom Streben und vom Hinkommen des Gregor, jenem „Jungen, der einfach nur ganz unverschämt bei sich selber war.“ Und hinter den Zeilen lugt der Nabokov hervor, der Beckett, der Flaubert, nicht zuletzt der Merimée.

Was uns nicht unbedingt gestört hätte, nichts gegen ordentliche Vorbilder, und ein paar literarische Rätsel haben noch keinem geschadet, außerdem hat die „Geschichte“ Schwung und bot uns Einblicke in die Welt der Archivare und des Friseurhandwerks, wofür wir dankbar sind. Und Simon Simon, der Weiche, war uns zeitenweise regelrecht ans Herz gewachsen. Aber wir ertrugen einfach die Begleitmusik nicht, das ewig Verkünstelte, das Schwülstige und Geschraubte, was uns immer wieder gequält aufzucken ließ. Warum, zum Teufel, müssen etwa des guten Simon Hände kurz vor dem Ziel „eine Minute lang retardierend verweilen, bevor sie sich an den Häkchen und Ösen zu schaffen machen“? Wo er doch ein paar Seiten früher schon „geradezu retardiert“ beziehungsweise kurz darauf „nicht mehr retardiert“. Und was sollen wir davon halten, wenn sie eines schönen Nachmittags nebeneinander stehen, „die Friseuse und der Archivar, unschlüssig, mit Blick auf die frühsommerlichen Lebensäußerungen der Provinz“, welch letztere uns im übrigen besonders interessiert hätten, wobei wir uns jedoch, da wir selber denken können, nicht mehr mit ein paar Kritikastersprüchen über Abteilungsleiter in der Lebensmittelbranche („Sachwalter der Kommerzinteressen“) abspeisen lassen.

Bitter enttäuscht waren wir dann vollends von der Unfähigkeit des Autors, seinen selbstgewählten Kunstgriff – den ständigen Perspektivwechsel – auch überzeugend durchzuführen. Denn leider fanden wir uns, als wir grade die Welt mit den Augen des guten Simon zu betrachten anfingen, in regelmäßigen Abständen urplötzlich hoch oben auf dem auktorialen Ast wieder, wo wir ein paar Zeilen Schwulst zu ertragen hatten. („Eine Morgenkühle empfing ihn, ein Halbdunkel, ein ungeheurer Ordnungswille.“) Da thomasmannt er dann vom „sogenannten Leben“ wie eben jener, der es auch sein Lebtag nicht geschafft hat, das Wörtchen „Leben“ ohne Gänsefüßchen zu Papier zu bringen.

Außerdem hätten wir dem Autor, wenn er seine Carmen nicht liebt, sie nicht zum Leben zu erwecken vermag, sich als Carmen, als Frau, als Handelnde am allerallerunwohlsten fühlt, so daß ihm die Feder stockt und er wieder auf seinem Ast landet, da hätten wir ihm doch geraten, den doppelt-männlichen Blick seines Vorgängers Prosper Merimée beizubehalten und der Frau ihren eigenen Raum zu belassen, Flaubert hin oder her.

Daß er Carmen – das verraten wir jetzt einfach – am Leben, ja regelrecht glücklich werden läßt, rechnen wir ihm übrigens hoch an. Ob er, wie es der Deutschlehrer von seinem Gregor vermutet, „dazu berufen sei, die gegenwärtige deutsche Literatur aus ihrem erbärmlichen Zustand zu erretten“, wissen wir nicht. Eines jedenfalls können wir mit seinen eigenen, neulich anderweitig gedruckten Worten schriftlich geben: „Dieser Versuch, der ja auf einem hübschen Grundeinfall beruht, ist nun leider mißlungen.“ Günther Grosser

Jochen Schimmang: „Carmen. Eine Geschichte“. Frankfurter Verlagsanstalt 1993, 186 S., 36 DM