: Grindelallee bald amtlich besetzt?
■ Seit zehn Jahren stehen zwölf Wohnungen in der Grindelallee leer / Behörden prüfen Zwangseinweisung von Obdachlosen
von Obdachlosen
Eigentum verpflichtet. Zu was? Zu nichts! Davon geht offenbar der Tischler Anton Selzle aus. Seit zehn Jahren läßt er zwölf Wohnungen in seinem Haus an der Grindelallee 188 leerstehen. Die Bezirkspolitiker und die Behörden wollen jetzt den Vermieter zwingen, die Wohnungen neu zu vermieten oder Obdachlose aufzunehmen.
Speckige Gardinen in den Fenstern vertuschen den Leerstand. Die Klinken der Wohnungstüren sind abgeschraubt. Von 16 Wohnungen sind nur vier belegt: Zwei nutzt die Deutsche Bank, im vierten Stock leben die letzten beiden Mieter. Einer von ihnen ist Werner Burkhardt, der hier seit 1959 eine 96-Quadratmeter-Wohnung bewohnt. Der 64jährige klagt: „An dem Haus wird nichts mehr gemacht, es verfällt langsam.“ Auf die Frage nach der Zukunft des Klinkergebäudes erhielt Burkhardt vom Eigentümer bislang nur „ausweichende Antworten“.
Um den Leerstand zu beenden, forderte der Kerngebietsausschuß auf Initiative der SPD das Bezirksamt vergangenen Monat einstimmig auf, „zu prüfen, welche Möglichkeiten bestehen, obdachlose Menschen in dem Gebäude unterzubringen“. Dabei soll die Behördenspitze bis Anfang Mai auch „offensiv prüfen“, ob eine Zwangseinweisung nach dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz möglich sei.
Ob eine solche Wohnraumbeschlagnahmung aber vor Gericht Bestand hätte, ist zweifelhaft. Die Rechtssprechung erlaubt Zwangseinweisungen von Obdachlosen nur, wenn der Bezirk alle Möglichkeiten einer anderweitigen Unterbringung der Wohnungslosen ausgeschöpft hat. Er muß vor einer Beschlagnahme nicht nur die eigenen Unterbringungsmöglichkeiten ausschöpfen, sondern auch nachweisen, daß er sich bemüht hat, Abrißhäuser oder Hotelzimmer für die Obdachlosen anzumieten.
Trotz der komplizierten Rechtslage entschied die Bezirksamtsleiterin Ingrid Nümann-Seidewinkel gestern nach einer Beratung mit der bezirklichen Rechtsabteilung: „Wir gehen das Prozeßrisiko ein, werden klagen.“ Vorher soll dem Eigentümer allerdings eine letzte Frist eingeräumt werden, den Leerstand selbst zu beenden.
Daran glaubt in der Verwaltungszentrale aber niemand mehr. Denn schon mehrfach versuchte das Einwohneramt erfolglos, den Tischlereibesitzer zu überzeugen, das Eckhaus Grindelallee/Hallerstraße wieder mit Leben zu füllen. Zuerst 1982, als nach dem Auszug
1der Hermes-Kreditanstalt die Räume freiwurden. Der Versuch, Selzle mit Hilfe der Zweckentfremdungsverordnung zur Wiedervermietung zu zwingen, ging ins Leere, da die Wohnungen schon
1vor Inkrafttreten des Regelwerks gewerblich genutzt wurden. 1989 versuchten die Behördenvertreter, den Vermieter zu überreden, DDR- Flüchtlinge und Spätaussiedler in seinem Haus aufzunehmen. Selzle
1willigte erst ein, machte dann aber einen Rückzieher. 1991 scheiterte schließlich ein Versuch des Bezirksamts, „Asylbewerber“ in dem Klinkergebäude unterzubringen. Marco Carini
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