Leerstelle für hochfliegende Träume

■ Wo das Stadtbild zu wünschen übrigläßt (24. Folge): Die Leipziger Straße

Berlin. In das Erscheinungsbild der Leipziger Straße hat sich die Geschichte der Teilung in einer theatralischen Künstlichkeit eingeschrieben. Zwischen Friedrichstraße und Spittelmarkt ist die 60 Meter breite Straße zu einem inszenierten Dokument des Kalten Krieges geworden, das mit den vier 25-geschossigen Hochhauskomplexen sich steinern manifestiert. Parallel zum ehemaligen Verlauf der Mauer bildeten die großen Monolithe einen künstlichen Gürtel, der die Grenze im Stadtbild verdoppelte. Achtspurig ausgebaut, repräsentierte die Straße in der „Hauptstadt der DDR“ das Bild der autogerechten Stadt – die Kulisse blieb. Großzügig führte sie ins Nirgendwo, wie ein fehlgeschlagenes Konzept der Moderne.

Heute hat sich das Paradox in sein Gegenteil verkehrt: Seit der Öffnung der Mauer wird die Leipziger als Verkehrsachse genutzt, aber die Kolonnen des Verkehrs gelten heute als Feind urbanen Lebens. Der modernistische Grenzort – einst provokativ-bauliche Systemkonkurrenz zum hochgezogenen Springer-Imperium – wurde zur Rennbahn, die städtische Vielfalt ebenso vertreibt wie das Theater das Leben.

Die Künstlichkeit indessen scheint der Mythos der Leipziger Straße zu sein. Hier erhellten 1886 die ersten elektrischen Bogenlampen Berlins die Nacht. Der Maler Lesser Ury schilderte das künstliche Nachtlicht in kühnem Expressionismus. Die Straße der „tausend sprühenden Farben“, wie der Schriftsteller Oskar Bie kommentierte, avancierte zum poetisch-pointilistischen Bild. Der Boom der Geschäftsstraße lockte in den zehner Jahren dieses Jahrhunderts gläserne Architekturutopien an. Eng, baumlos und steinern war der Boulevard in den zwanziger Jahren, dessen zirkelschlagender Maßstab von 22 Metern Breite heute wieder rekonstruiert werden soll.

Auch in der geteilten Stadt gerann die Erinnerung an die künstliche Straße in Bildern und Versen: Kokoschka malte sie als farbwüsten Aufmarschplatz mit rote Fahnen schwingenden Menschen, und der Dichter Wolfdietrich Schnurre beschrieb 1962 die „mondhafte Leere“ der Straße, als sei sie nur mehr aus Kalter-(Kriegs)-Kunst. Geschichte wird zum irrealen Schauspiel, die Symbolsprache der Architektur zur absurden Geste. Noch scheint die Stadt nicht in der Wirklichkeit angekommen, noch ist ihre Zukunft eine Leerstelle für hochfliegende Träume. Rolf Lautenschläger